Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
Atlantiks versinken würde. Der Zwang, der
sie umklammert hielt, war überwältigend, das Bedürfnis, die Kabine zu verlassen, so dringend, dass sie zu ersticken meinte.
Wie von einer Macht außerhalb ihrer selbst gelenkt, warf sie ihr Cape um, setzte den Hut auf, ergriff dieTasche, die ihr Geld und ihre Dokumente enthielt, und stürzte, ohne sich um die verlassenen Koffer zu kümmern, aus dem Raum.
Sie quetschte sich zwischen den immer noch die Treppe herabströmenden Passagieren hindurch und erreichte das Deck gerade,
als das zweite Tuten der Schiffssirene anzeigte, dass alle von Bord mussten, die nicht mitfuhren. Keuchend vor Panik rief
Louise dem Zahlmeister zu: »Ich bin Louise Paquin, Kabine sechzehn – ich fahre nicht mit!« Mit einem Satz sprang sie aufs
Ponton, als könnte sich jeden Moment ein unüberwindbarer Spalt zwischen Schiffsrumpf und Landungsbrücken auftun.
Dann stand sie da wie eine, die mörderischen Verfolgern entkommen ist, mit bebender Brust und schweißnassen Händen. Sie konnte
selbst kaum glauben, was sie da getan hatte. Welche Macht hatte sie von Bord des Dampfers gejagt? Ein Schutzengel, der sie
davor bewahren wollte, auf einem zum Sinken verdammten Schiff zu reisen?
Benommen beobachtete sie, wie beim dritten Tuten die Matrosen die Leinen lösten und das Fallreep hochgezogen wurde. Gleich
darauf entfernte sich der Ozeandampfer mitsamt Louises Koffern. Zweifellos würde der Zahlmeister seinen Kollegen erzählen,
wie eine närrische Person im letzten Augenblick von Bord gestürmt war, ohne ihr Gepäck mitzunehmen.
Die Tasche mit ihren restlichen Habseligkeiten eng an sich gedrückt, schritt Louise die Promenade entlang zum Droschkenstandplatz,
stieg in eines der wartenden Gefährte und gab die Adresse der Apotheke am Jungfernstieg an.
Zum Glück lag der Brief noch ungeöffnet genau da, wo Louise ihn abgelegt hatte, und niemand in ihrer Umgebung wusste, dass
sie hatte fliehen wollen, also brauchte sie auchniemandem etwas zu erklären. Wie albern erschien es ihr jetzt, so davonzulaufen wie ein Kind, das ein Zerwürfnis mit seinen
Eltern hatte!
3
Lady Harrington wunderte sich ein wenig, warum Louise plötzlich ein geradezu unersättliches Interesse an den Aktivitäten ihres
Zirkels zeigte, aber sie dachte nicht lange darüber nach. Mit der Begeisterung einer Missionarin, die eine verlorene Seele
gewonnen hatte, führte sie die Freundin in ihre Kreise ein.
Louise war, als wäre sie in einen Fluss gefallen, in dem sie sanft dahintrieb, ohne schwimmen zu müssen. Sie brauchte sich
um nichts zu kümmern. Amy sorgte dafür, dass jede Stunde der Zeit, die sie nicht in der Apotheke verbrachte, ausgefüllt war.
Die fortschrittlichen jungen Damen besuchten das neue Nationaltheater und bestaunten die bewegten Bilder des Kinematographen,
sie unternahmen Radtouren, spielten Federball und turnten gemeinsam. Sie schlenderten über den Fischmarkt und ließen sich
die Ohren zudröhnen vom Lärm der Marktschreier, die lauthals ihre Waren anboten: fangfrischen Fisch, Blumen, Bananen, billigen
Schmuck und allerlei possierlichen Kram. Oft fuhr eine Gruppe von ihnen hinaus ins Grüne, sie saßen dort bei einem Picknick
zusammen und fütterten die Schwäne, die als lebende Wahrzeichen Hamburgs Binnen- und Außenalster schmückten. Vom Hamburger
Rat unter besonderen Schutz gestellt, durften sie nichtverletzt oder getötet, ja nicht einmal »beleidigt« werden. Ein eigens von der Stadt angestellter und besoldeter Schwanenvater
sorgte für die Tiere.
Amy war diese Fürsorge eines Tages Anlass zu heftiger Kritik. »Sogar die dummen Vögel haben ihren eigenen Fürsprecher und
Protektor!«, rief sie erzürnt aus, während sie den Schwänen Brotbröckchen zuwarf. »Und wer kämpft für uns? Alles ist immer
noch in den Händen der Männer.«
Den Einwand, mit der neuen Verfassung seien viele alte Zöpfe abgeschnitten worden, wollte sie nicht gelten lassen. »Gut, wir
haben jetzt Gewaltenteilung, Trennung von Staat und Kirche, Pressefreiheit, Vereins- und Versammlungsrecht. Alles sehr hübsch,
aber profitieren wir Frauen davon? Es gibt unzählige Vereine, die uns eine Demokratie verschaffen sollen, ja vielleicht sogar
den Sozialismus, aber kümmert sich einer davon wirklich um uns? Was sind sie also? Stammtische männlicher Dummköpfe, wo einer
dem anderen zu seiner Fortschrittlichkeit gratuliert! Wer wählt den Senat? Der männliche, Steuern zahlende
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