Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
Bürger! Ich sage
euch, was wir brauchen: ein zweites 1848, eine zweite Märzrevolution!«
Solchen feurigen Reden folgte meist eine scharfe Debatte, bis alle außer Atem waren und sich aus dem Picknickkorb bedienten,
um sich zu stärken. Abschließend lasen sie oftmals einander aus Romanen weiblicher Schriftsteller vor.
Louise fühlte sich allmählich durchtränkt vom Geist moderner Weiblichkeit, aber Frederick konnte sie nicht vergessen. Sie
stellte im Übrigen fest, dass nicht so heiß gegessen wurde, wie Amy kochte. Viele der so lauthals auf die Männer schimpfenden
jungen Frauen hatten einen Mann im Hintergrund, einen treuen Freund, eine heimliche Liebe oder einen Verlobten. Eine von ihnen
war sogar verheiratet und hattezwei Kinder. Verblüfft vernahm Louise, wie eine der Damen ihr mit einem Lächeln erklärte: »Natürlich lieben wir sie. Aber
wir halten uns an den Spruch: Sei gut zum Mann, doch nie zu gütig, sonst wird der Kerl nur übermütig.« Alle brachen bei dieser
Rede in Gelächter aus. »Es macht Sinn«, fuhr sie ernsthaft fort, »sie ordentlich einzuschüchtern, denn sie haben immer noch
viel zu viele Rechte, und wenn wir sie nicht an die Wand drängen, gewähren sie uns keinen Platz.«
An einem glühenden Hochsommertag suchten die Damen im Zoologischen Garten Zuflucht vor der stickigen Hitze der Stadt. Dieser
lag geradewegs vor dem Dammtorbahnhof, kaum zehn Minuten vom Jungfernstieg entfernt. Ehe der berühmte Zoologe Alfred Brehm
hier einen Tiergarten errichtet hatte, war dieser Ort, die sogenannte Sternschanze, eine traurige Wüstenei gewesen, auf der
einen Seite begrenzt durch einen tiefen Graben, auf der anderen durch Kirchhöfe, deren Nachbarschaft die melancholische Stimmung
noch erhöhte. Inzwischen war der Platz nicht wiederzuerkennen. Man hatte künstliche Wasserläufe, ja sogar Wasserfälle geschaffen,
Grotten erbaut und Felsen aufgetürmt, Bäume und Sträucher gepflanzt und vor allem zahlreiche Tierhäuser gebaut, die bei aller
zweckmäßigen Einfachheit künstlerisch geschmackvoll ausgeführt waren.
Louise und ihre neuen Gefährtinnen schlenderten eine Allee entlang, in der Aras und Papageien kreischend herumflatterten und
nach den Brotbröckchen pickten, die die Spaziergänger ihnen zuwarfen, und dann vorbei an einem Teich, auf dem sich Schwimmvögel
tummelten. Ein Stückchen weiter öffnete sich links vom Wege ab die ›Wolfsschlucht‹. Eine der Damen las aus dem Führer vor:
»Ein höchst gelungener und durchaus eigentümlicher Bau, welcher dem Wesen des Wolfesentspricht und der Phantasie des Beschauers den weitesten Spielraum lässt.«
Amy blickte durch das mannshohe Gitter in den unheimlich wirkenden Graben hinunter und bemerkte nachdenklich: »Wäre es nicht
ein vorzüglicher Gedanke, dass man die wilden und gefährlichen Männer in solchen Gruben und Schluchten unterbringt? Man könnte
sie zweimal des Tages füttern und sich an dem Anblick ergötzen, wie sie knirschend an den rohen Knochen nagen …« Lebhaftes Gelächter erhob sich, aber Louise, die eben noch heiter und unbefangen war, versank bei dem Gedanken an ihren
gefangenen Freund wieder in tiefe Traurigkeit. Und für ein paar Minuten grübelte Louise darüber, warum ihre englische Freundin
keinen Tag vergehen ließ, ja oft nicht einmal eine Stunde, in der sie die Männer nicht mit Dreck bewarf. Frauenrechte hin
oder her: Da steckte noch etwas anderes dahinter, und früher oder später würde sie herausfinden, was es war.
W ieder vereint
1
Der Sommer verging und dann der Herbst. Schon heulten wieder die Stürme von der Nordsee herein und Regen peitschte über die
Straßen. Ein Tag wie der andere war trüb und düster. Gerade in dieser tristen Zeit jedoch erhielt Louise einen Anruf, der
neue Hoffnung in ihr weckte. Dr. Taffert meldete sich bei ihr und bat sie zu einem Gespräch in seine Kanzlei, da er wichtige Neuigkeiten für sie hatte.
Sie erschien, fröstelnd vom kalten Nebel, aber mit vor Aufregung geröteten Wangen.
»Setzen Sie sich, Frau Paquin.« Der Anwalt deutete auf einen der Ledersessel, die vor dem Kaminfeuer standen.
Er setzte sich ihr gegenüber, klingelte nach Tee und legte einen Aktenordner vor sich auf den Tisch. »Es gibt wichtige Neuigkeiten.«
Er lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen aneinander, ein Zeichen, dass er vorhatte, nach Art seines Berufsstandes
alles ausführlich zu erklären.
Louise seufzte innerlich, aber es
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