Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
hatte wohl keinen Sinn, von ihm sofort eine klare Antwort zu erbitten. Also blickte sie
ihn nur aufmerksam lauschend an und nippte zwischendurch an dem starken goldfarbenen Tee, der eine wunderbare Wärme durch
ihre kalten Glieder sandte.
»Sie hatten mich gebeten, eine Milderung des Urteils für Frederick Hansen zu erreichen. Ich las also die Akten noch einmal
mit größter Sorgfalt durch, und dabei blieb ich an einem Detail hängen: der Markierung auf dem Hemd des Jungen, die man für
seinen russischen Vornamen hielt – Fedor. Bislang hatte ich dem keine besondere Beachtung geschenkt, da es mir für die Verteidigung
irrelevant erschien. Aber jetzt dachte ich: Wenn die Eltern des Knaben Russen waren, dann hätten sie das Hemd des Kindes doch
in kyrillischer Schrift markiert, nicht in lateinischer. Außerdem sind die meisten russischen Auswanderer Juden, mein Mandant
ist jedoch unbeschnitten. Können Sie mir folgen?«
»Ja.« Sie wusste nicht, worauf er hinauswollte.
Er nickte zufrieden. »Und überhaupt: Warum sollte jemand das Hemd eines Kindes mit dessen Vornamen markieren? Es war um vieles
wahrscheinlicher, dass das Hemd mit dem Familiennamen gekennzeichnet war, damit es auf der Reise nicht verloren ging. Aus
alledem folgerte ich, dass es sich nicht um das Kind einer russischen Familie handelte, denn es gibt im Russischen zwar einen
Vornamen, Fedor, aber keinen Familiennamen. Es erschien mir also weitaus plausibler, dass das Hemd mit einem deutschen Familiennamen
markiert war, einem Namen wie Feder oder Leder oder so ähnlich. Aus dieser Überlegung heraus kontaktierte ich die Familie,
der man Frederick damals in Pflege gegeben hatte. Arme, aber anständige Leute – jedenfalls habe ich ihnen dringend geraten,
vor Gericht als solche aufzutreten! Sie sagten aus, der Junge, den man ihnen übergeben hatte, sei nicht zwei Jahre, sondern
sicher schon drei oder vier Jahre alt gewesen, habe also schon sprechen können, und sie hätten nie ein fremdländisches Wort
von ihm gehört, sondern nur ganz normalesDeutsch, womit sie Hamburger Dialekt meinten.« Er blickte Louise triumphierend an. »Wir dürfen also davon ausgehen, dass Herr
Hansen Deutscher ist. Und das heißt, er kann nicht ausgewiesen werden.«
»Oh!« Sie presste beide Hände gegen die Brust und sog pfeifend den Atem ein. Jetzt erst erfasste sie die Bedeutung seiner
Worte.
Er lächelte, vollkommen zufrieden mit sich. »Und dieser Meinung war auch das Gericht.«
»Es gab also einen zweiten Prozess? Davon wusste ich nichts.«
»Es war keine große Verhandlung. Ich brachte meine Ansichten vor, die Pflegeeltern machten ihre Aussage, dann traf der Richter
seine Entscheidung. Mein Mandant darf also bleiben, er darf sogar, da sein eigentlicher Familienname bei der großen Menge
an Auswanderern nicht mehr auszuforschen ist, den Namen Frederick Hansen weiter führen, sich allerdings nicht mehr als Sohn
des Kapitäns ausgeben oder in irgendeiner Weise eine Verbindung mit dessen Familie behaupten. Es bleibt also dabei: Eltern
unbekannt, Geburtsdatum unbekannt, Geburtsort unbekannt. Aber das wird ihn wohl nicht besonders stören, da er in Deutschland
bleiben darf – und bei Ihnen.«
Einen Augenblick lang wäre sie ihm am liebsten um den Hals gefallen, so glücklich war sie. Aber dann erinnerte sie sich an
die harten Worte, die Frederick ihr hatte ausrichten lassen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Er will mich nicht mehr
sehen.«
»Er wird Sie sicherlich sehen wollen, sobald er aus der Haft entlassen wird.«
»Dann sagen Sie ihm, an dem Tag, an dem er entlassenwird, soll er seine Zivilkleider anziehen und dann sofort zu mir kommen. Ich kann es nicht erwarten, ihn wiederzusehen.« Louise
lächelte und hatte dabei Tränen in den Augen. Sie hatte große Angst, dass Frederick auch nach seinem Gefängnisaufenthalt nichts
mehr von ihr würde wissen wollen. Männer konnten so verdammt stolz sein!
In der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Sagen Sie mir nur eines: Wie viel haben Sie der Pflegefamilie für die Aussage
bezahlt?«
Er streckte abwehrend beide Hände aus, während sein Mund sich grinsend in die Breite zog. »Pfui! Schämen Sie sich. So etwas
fragt eine wohlerzogene Dame nicht. Auf Wiedersehen, Frau Paquin.«
2
Mitte Dezember rief Dr. Taffert an und brachte Louise eine Botschaft, die sie zu Tränen rührte. Wie jedes Jahr zu Weihnachten hatte der Kaiser in
einem Akt allerhöchster
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