Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
die Plätze in der dritten Klasse und im Zwischendeck
gebucht hatten, Menschen, denen eine ungemütliche Reise bevorstand. Voll Dankbarkeit dachte sie an Raoul, dessen Erbe ihr
die Möglichkeit gab, in einer Kabine zweiter Klasse zu reisen. Sie hätte auch erster Klasse buchen können, aber das wollte
sie nicht. Ihr neues Leben sollte mit Vernunft und Sparsamkeit beginnen. Schließlich würde sie all ihr Geld brauchen, um Fuß
zu fassen.
Sie drückte sich eng an die Wand, als eine wahre Brandungswelle lärmender Auswanderer auf das Schiff wogte. Männer, Frauen
und Kinder waren beladen mit schäbigen Koffern, die mit Lederriemen und Bindfaden zugeschnürt waren, mit Körben, Taschen,
Beuteln und sogar aus Kissenbezügen geknüpften Bündeln. Sie alle pressten ihre kümmerlichen Habseligkeiten an sich und bemühten
sich, ihre Kinder in dem Gedränge nicht zu verlieren. Louise dachte an Fredericks Eltern, die zweifellos einmal ein solches
Schiff bestiegen hatten, von schlechtem Gewissen und doch auch von Erleichterung erfüllt, dass sie ihre Fahrt in ein neues
Leben ohne den kleinen Fedor antreten konnten.
Ein recht ungeduldiger Steward zog sie am Arm aus dem Gewühl, als er sah, dass sie ihr Billett bereits abgegeben hatte, und
drängte sie zur Treppe. »Da hinunter, Fräulein, und den Gang rechts entlang, hinter der Biegung.« Nur die Passagiere erster
Klasse wurden vom Steward und einem Matrosen dienstbeflissen zu ihren Quartieren geleitet, die Passagiere der zweiten Klasse
mussten sich ihren Weg selbst suchen, und die Menschen im Zwischendeck wurden überhaupt wie eine Herde Vieh die Treppen in
ihre dunklen, nach modrigem Holz riechenden Quartiere hinuntergetrieben, wo sie unter menschenunwürdigen Bedingungen zusammengepfercht
wurden. Auf fünfzig Passagiere kam eine Toilette, von Hygiene war kaum zu reden, Krankheiten breiteten sich in Windeseile
aus. Es galt schon als Fortschritt, dass den Zwischendeckpassagieren wenigstens ein Platz von der Größe eines Bettes pro Person
zugestanden wurde. Während der ganzen Reise mussten die Leute ihr Leben auf diesen engen Raum beschränken: Dort wurde nicht
nur geschlafen, sondern auch gegessen, geweint, gesungen, geredet und manchmal gestorben, denn viele, vor allem einige der
bereits erschöpften Auswanderer aus Russland, überstanden die Tortur der Reise nicht. Und doch waren es immer wieder Hunderte,
die sich in den Bauch jedes Amerikafahrers drängten, voll Hoffnung, Freude und Mut, ihr Leben neu beginnen zu können.
Louise schleppte mit schmerzenden Armen ihren Koffer, die Reisetasche und eine Handtasche. Was hatte sie eigentlich eingepackt
– Pflastersteine? Die paar Kleider und Schuhe konnten doch nicht so viel wiegen! Es war wohl wie beim Wäschewaschen: Da dachte
man immer, nur ein paar Kleidungsstücke zu besitzen, und wenn es ans Waschen ging, erwies es sich als ein riesenhafter Berg
Wäsche.
Sie kämpfte sich durch eine Schar aufgeregter und ungeduldiger Menschen, die in dem schmalen Gang ebenfalls ihre Quartiere
suchten, zur Nummer sechzehn durch, stieß die Tür auf und ließ mit einem brunnentiefen Seufzer ihr schweres Gepäck fallen.
Die Schiffsgesellschaft, stellte sie fest, hatte streng darauf geachtet, den Platz auf dem Dampfer möglichst bis zum letzten
Zoll auszunutzen, deshalb waren die Kabinen der zweiten Klasse gerade so groß, dass eine Person mit zwei Koffern hineinpasste.
Je mehr verkaufte Fahrkarten, desto mehr Gewinn, hieß die Devise der Schiffsunternehmer, daher knauserten und knapsten die
Schiffsbauer um jeden Zoll in den preiswerteren Quartieren. Ein Kojenbett war da mit zwei Schubladen darunter, ein winziger
Waschtisch im Winkel, ein Brett unter dem Bullauge, das als Tisch diente, und zwei tiefe, vorne mit Netzen bespannte Bretter
einen halben Meter unterhalb der Decke, die als Gepäckaufbewahrung dienten. Das Ganze bot nicht mehr Raum als ein Eisenbahnabteil,
und zum ersten Mal empfand Louise Angst, als sie an die Reise dachte. Wie würde es sein, bei jedem Wetter, vielleicht sogar
einem Sturm, in dieser Holzkiste eingesperrt zu sein?
Sie wollte eben ihre Koffer öffnen und damit anfangen, ihre Habseligkeiten auszuräumen, als sie in der Bewegung erstarrte.
Jähe Panik breitete sich in ihr aus. Es war nicht die Angst vor der Reise, sondern ein irrationales, aber zutiefst erschreckendes
Gefühl, als hätte sie eine Vorahnung, dass das Schiff in den eisigen Tiefen des
Weitere Kostenlose Bücher