Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
sagte: »Wenn ich Ihnen raten darf, sollten Sie sich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nicht gleich wieder in Ihr
gewohntes Leben stürzen. Vielleicht wäre es gut, sich einmal allen Zugriffen zu entziehen, auch denen der Wohlmeinenden. Eine
Zeit der Stille an einem ruhigen Ort wirkt Wunder für die Seele.«
Sie lächelte schwach. »Sagen Sie bloß nicht, ich soll mich in ein Nervensanatorium begeben.«
»Warum nicht? Ein Sanatorium ist kein Irrenhaus. Sie haben Geld genug. Nehmen Sie sich ein Zimmer in einem erstklassigen Etablissement,
schlafen Sie, lesen Sie, denken Sie nach, lösen Sie sich von all der Aufregung. Ich kenne ein angenehmes Haus am Meer. Lange
Strandspaziergänge, die frische, salzige Brise und das gesunde Essen würden Ihnen guttun. Nach drei Wochen sind Sie wie neugeboren.«
»Ich würde mich zu Tode langweilen.«
»Sie haben genug, worüber Sie nachdenken können, ohne sich zu langweilen.« Er zog ihre Hände so eng an sich, dass sie ihm
ins Gesicht blicken musste. Es war ein vertrauenswürdiges Gesicht. »Das ist jetzt notwendig, Frau Paquin. Sonst laufen Sie
Gefahr, immer ein Spielball in den Händen anderer Leute zu bleiben. Menschen neigen nun mal dazu, andere für ihre eigenen
Interessen zu nutzen. Auch wenn gar keine böse Absicht dahintersteckt und es Menschen sind, die Sie aufrichtig schätzen und
lieben …«
»Deshalb soll ich dorthin gehen, wohin Sie den Ball werfen? In dieses Sanatorium?«
»Das müssen Sie selbst entscheiden. Ich habe Ihnen nur einen Rat gegeben.« Er stand auf und griff nach seinem Zylinder. »Rufen
Sie mich an, wenn Sie es sich überlegt haben, dann arrangiere ich Ihren Aufenthalt.«
»Ich werde es mir überlegen«, versprach sie, obwohl sie genau wusste, dass sie seinen Rat nicht befolgen würde.
Als Dr. Thurner gegangen war, dachte Louise noch eine Weile darüber nach, was er gesagt hatte. Er hatte sie einen Spielball genannt … Wie recht er hatte! Als Frederick noch bei ihr gewesen war, hatte er ihr zwar jeden Tag aufs Neue seine Liebe beteuert,
trotzdem wollte er, dass sie nach seinen Vorstellungen lebte. Selten hatte er sie ernsthaft gefragt, was sie denn wolle. Er
dachte, er könne über sein und ihr Wohl bestimmen. Als wüsste er am besten, was ihr guttat. Sie war doch kein kleines Kind
mehr! Und Amy? Auch sie fragte nicht nach Louises Wünschen und Bedürfnissen. Sie wollte sie im Grunde nach ihrem Geschmack
formen: Sie sollte eine zweite Amy Harrington werden, das hatte sie schon lange durchschaut.
»Nicht mit mir!«, stieß Louise laut aus, als ihr die Abscheulichkeit dieses Verhaltens bewusst wurde. Sie wusste, dass die
beiden keine hinterlistigen Absichten hegten. Dennoch würde sie sich mit eigener Kraft den Fesseln entziehen müssen, die ihr
der Mann, den sie aufrichtig liebte, und die Frau, die ihr zur besten und liebsten Freundin geworden war, anlegen wollten.
Noch einmal ließe sie ihr Leben nicht in Ketten legen!
Am nächsten Tag hatte Louise es eben geschafft, ein schales Mittagessen aus Haferschleimsuppe und Hühnerragout hinunterzuwürgen,
als eine Besucherin den Krankensaal betrat.
Amy hatte in der Apotheke erfahren, dass Louise mit dem Sanitätswagen ins Krankenhaus gebracht worden war, und als sie Dr. Thurner in ihrer geschickten Art ausgefragt hatte, hatte sie den Grund der plötzlichen Erkrankung erfahren. Sie bemühte sich
nach Kräften, die Freundin zu trösten, wobei sie allerdings nicht eben feinfühlig vorging. »Ich weiß, es ist bitterfür dich«, sagte sie, während sie Louises Hand hielt. »Aber letztendlich ist es besser so. Als Witwe ein Kind aufzuziehen,
noch dazu das Kind eines Verbrechers, ist eine schwere Last. Jetzt sind alle Bande zwischen euch zerschnitten, und glaube
mir, das erspart dir viel Leid.«
Louise wand ihre Hand aus der Hand der Freundin. »Du verstehst das nicht. Ich liebe ihn«, flüsterte sie.
Amy schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Du musst jetzt vernünftig sein. Du wirst ihn nicht mehr wiedersehen. Vergiss ihn, das
ist alles, was ich dir raten kann. Konzentrier dich jetzt ganz auf dein eigenes Leben.«
»Mein Leben ist leer ohne ihn.«
»Schnickschnack!«, erklärte Amy mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Jetzt nimmst du dein Schlafmittel und ruhst dich ein
wenig aus. Und sobald du dich erholt hast, machen wir Pläne.«
»Amy! Ich kann das nicht … Hast du denn noch nie einen Menschen so geliebt? Kannst du das gar nicht
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