Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
»Ein Medikament, Annette! Arzneien werden oft mit
süßem Wein oder Sirup zubereitet, damit sie nicht so bitter schmecken und länger haltbar sind. Wenn er so etwas täglich einnahm,
dann könnte er auf diese Weise verseuchten Wein getrunken haben.«
»Da brauchen Sie bloß in der Nachtkommode gucken«, erklärte die Zofe, die hilfreich sein wollte. »Mein Vater, Gott hab ihn
selig, hatte die Nachtkommode voll mit Pillen und Pasten und Flaschen und den Tiegeln mit Hundefett. Alles für Rheuma, Herzweh,
die Schmerzen im Fuß und …« Sie kicherte. »Ich hab einmal ein paar feste Ohrfeigen von ihmbekommen, weil ich in seiner Nachtkommode eine Schachtel fand mit einem französischen Bildchen drauf, Sie wissen schon, und
da waren auch Tabletten drin. Solche, die die alten Männer einnehmen, damit sie noch können.«
Amy klatschte in die Hände. »That’s it! Da hast du mich auf einen guten Gedanken gebracht!«
»Das freut mich, Fräulein.«
Amy überlegte eine Weile, dann fuhr sie fort: »Ja, das könnte passen. Der Apotheker war ein älterer Mann, er war mit einer
jungen Frau verheiratet. Möglicherweise hat er etwas eingenommen, das seiner Manneskraft auf die Sprünge helfen sollte. So
etwas nimmt man natürlich heimlich ein, weil man sich gemeinhin dafür schämt. Deshalb auch die Ohrfeigen von deinem Vater … Ich werde mich da einmal kundig machen.«
Die Zofe war bemüht, ihr nützliche Informationen zu liefern. »Vielleicht hat ihn die Köchin ermordet, die garstige Alte. Der
würde ich es jederzeit zutrauen.«
»Wenn ihn einer ermordet hat, dann der Privatsekretär«, zischte Amy. »Der Mann hat schmutzige Geheimnisse. Das merkt man ihm
schon an, wenn man mit ihm redet. Er weiß nicht, wo er hinschauen soll, und passt auf jedes Wort auf, das gesagt wird, um
von einem gefährlichen Thema schnell abzulenken. Hast du schon einmal von einem Kapitänssohn gehört, der nicht weiß, dass
man ›Anker lichten‹ sagt? Es wird mir ein Vergnügen sein, ihn zu entlarven, das kannst du mir glauben. Auf jeden Fall müssen
wir versuchen, Louise Paquin die Augen über diesen Menschen zu öffnen. Sie hat keine Welterfahrung, war immer mit dem alten
Mann eingesperrt. Kein Wunder, dass so ein schmieriger Kerl ihr nur ins Ohr zu säuseln braucht, und schon fällt sie ihm in
die Arme!«
Sie gähnte ausgiebig. »So, jetzt habe ich mir alles von derSeele geredet, jetzt kann ich wohl einschlafen. Tut mir leid, dass ich dich aus dem Bett gerissen habe.«
»Macht nichts, Fräulein. Ich hör Ihnen gern zu.« Sie wünschte eine gute Nacht und trippelte, die Kerze in der Hand, zurück
in ihr Kämmerchen.
2
Tiefe Nacht breitete sich über Hamburg. In den bürgerlichen Vierteln und den Häusern der Arbeiter, die früh aufstehen mussten,
lag alles in friedlichem Schlaf, nur in den finsteren Gassen am Hafen flatterten die Fledermäuse auf ihren heimlichen Wegen
herum.
Louise konnte nicht schlafen. Sie lag auf dem Rücken, den Kopf auf Fredericks Schulter, und starrte in die unbehagliche Dunkelheit.
Nicht, dass sie sich vor Gespenstern fürchtete … Nicht ernstlich jedenfalls. Aber da war etwas Unsichtbares, das sich bewegte, schwerfällig durch unbeleuchtete Flure und
düstere Zimmer glitt und einen Raum nach dem anderen in Besitz nahm, bis es lauernd vor ihrer Tür angelangt war.
Frederick hatte sie zärtlich geliebt und ihr ein ums andere Mal seine Treue und Ergebenheit zugesichert. Sie zweifelte nicht
daran, aber während des Streits mit Amy Harrington war ihr klar geworden, dass sie im Begriff stand, von einem Käfig in den
anderen zu laufen. Wenn sie nicht sofort etwas unternahm, würde sie in Kürze das Kind eines zweiten wohlwollenden Vaters sein
– im günstigsten Fall die verwöhnte kleine Schwester eines fürsorglichen großen Bruders. FürFrederick schien es bereits selbstverständlich zu sein, dass er für sie dachte, handelte und entschied. Wie er sich empört
hatte, als Amy in seine vermeintlichen Rechte eingriff! Wie überzeugt er war, dass er das Recht und die Pflicht hatte, für
Louise zu sprechen! Er war gekränkt gewesen, hatte es als persönliches Misstrauen ausgelegt, dass sie nicht in dieser Weise
bevormundet werden wollte, und sie hatte nicht gewusst, wie sie ihm beibringen sollte, dass sie einfach nur ihre eigenen Entscheidungen
treffen wollte. Er verstand sie nicht. Für ihn gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie vertraute ihm, dann
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