Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
musste sie
ihm die Führung überlassen, oder sie vertraute ihm nicht. Dass es noch eine dritte Möglichkeit gab, war für ihn undenkbar.
Ihre Hand wanderte zu dem Porphyrkästchen auf der Nachtkommode, in dem sie ihren Alltagsschmuck und ihre Schlüssel aufbewahrte.
Darin lag auch der Schlüssel, den sie in der Asche im Badezimmerofen gefunden hatte. Der Schlüssel zum Thesaurus.
Seit dem ersten Tag ihrer Ehe hatte sie sich danach gesehnt, einen Blick in dieses geheimnisvolle Gelass zu werfen. Erst war
sie nur neugierig gewesen, aber als ihr Interesse an der Apotheke intelligenter und reifer wurde, hatte sie sich gekränkt
gefühlt, dass Raoul sie aus diesem Teil seines Lebens aussperrte. Sie hatte mit ihm zu argumentieren versucht, aber so gutmütig
er sonst war, in diesem Punkt war er hart geblieben. Es gehe sie nichts an, was darin sei, es gehe überhaupt niemanden etwas
an außer ihn selbst und den Magister, und sie solle nicht auf die dumme Idee kommen, ihre Nase hineinzustecken.
Jetzt konnte sie niemand mehr hindern. Und urplötzlich fasste sie den Entschluss: Sie würde sich nicht länger aussperrenund zurückweisen lassen. Sie wollte jetzt und auf der Stelle herausfinden, was sich hinter diesem weißen Fleck auf der Landkarte
des Hauses verbarg.
Im nächsten Augenblick wurde ihr geradezu schwindlig angesichts der Hybris, die sie da an den Tag gelegt hatte, aber es gab
kein Zurück mehr. Raoul hatte sie in sein Leben aufgenommen als seine Frau, nun würde sie diesen Platz auch behaupten. Er
hatte damals vor dem Priester versprochen, sie würden ein Fleisch sein. Seine Geheimnisse waren auch die ihren. Sie wollte
jetzt wissen, was sich hinter dem grünen Samtvorhang befand, ob es ihm recht gewesen wäre oder nicht.
Lautlos und sachte wie ein Kätzchen schlüpfte Louise aus dem Bett. Frederick erwachte halb und fragte murmelnd, wo sie denn
hinwolle. Auf ihre Antwort: »Auf den Abort«, drehte er sich beruhigt um und schlief weiter.
Sie raffte ihr langes Nachthemd um sich zusammen, warf einen Häkelschal über und schlich aus dem Zimmer. Draußen allerdings
suchte sie nicht den Abort auf, sondern tappte lautlos weiter die steinerne Treppe hinunter. Unten sperrte sie die Pforte
zur Apotheke auf und huschte hinein. Hinter einem kurzen Flur befand sich zur Linken das Laboratorium, wo die Urstoffe der
Arzneimittel zerkleinert, eingekocht, destilliert und filtriert wurden. Zwei Tische mit Marmorplatten erstreckten sich beinahe
von Wand zu Wand. Hier wurde zubereitet, was die Ärzte verordneten: Aufgüsse, Pastillen, Pillen, Gurgelwässer, Klistiere,
Inhaliermittel, Arzneiweine und -schnäpse, Räucherungen, Schnupfpulver, Latwergen, Zäpfchen, Einreibungen, arzneiliche Öle,
Salben und Pflaster. Entsprechend vielfältig war das Instrumentarium aus blitzendem Messing, Glas, Porzellan und poliertem
Holz, all die Waagen, Messglässer, Mörser und vieles andere mehr.
Zur Rechten führte eine Tür ins Kontor. Dessen Fenster gingen auf den Hinterhof hinaus, auf dem sich um diese Zeit gewiss
niemand aufhielt.
Sie zog an einer Schnur über dem Schreibtisch. Das Licht, das unter dem kegelförmigen Schirm hervordrang, erleuchtete mit
grellem Schein einen kleinen Teil der Tischplatte. Der Rest des Raumes lag in einem trüben, gelblichen Zwielicht.
Aber mehr Beleuchtung brauchte Louise nicht. Sie zog den grünen Samtvorhang beiseite und steckte den Schlüssel ins Schloss,
drehte ihn so ängstlich und erwartungsvoll wie Blaubarts Frau. Zum dritten Mal übertrat sie Raouls Anordnungen, widersetzte
sich seinen Wünschen. Erst Frederick, dann die Reformkleider, jetzt der Thesaurus. Eines so schlimm wie das andere.
Das schlechte Gewissen schnürte ihr die Luft ab. Gleichzeitig aber stieg ein ungewohnter Trotz in ihr auf. Sie hatte Raoul
alle Wünsche erfüllt, solange er ihr Gatte gewesen war. Aber war sie denn dem Toten noch etwas schuldig? Durfte sie nicht
ein neues Leben anfangen, in dem ihre eigenen Wünsche im Vordergrund standen?
Entschlossen drückte sie die schmale, altväterische Tür mit den lilienförmigen Eisenbeschlägen auf. Dunkel starrte ihr entgegen,
aus dem ein Geruch nach alten, getrockneten, leblosen Dingen hervorkroch. Sie tastete den Türstock entlang nach einem Lichtschalter,
fand eine Kordel und zog daran.
Licht flackerte auf, und aus dieser plötzlichen Helligkeit fuhr ihr eine dürre braune Fratze entgegen, den Mund wie zu einem
Heulen
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