Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
geöffnet, das Haar gesträubt.
Louise taumelte rückwärts, brach in die Knie. So heftig überwältigte sie der Schrecken, dass sie nicht einmal einen Schrei
hervorbrachte. Sie kniete auf dem Steinboden undstierte mit weit aufgerissenen Augen das Ding an, das keine zwei Meter von ihr entfernt in der Luft schwebte und im jähen
Luftzug der geöffneten Tür schaukelte, wobei es raschelte wie trockenes Laub.
Zitternd raffte sie sich auf, überzeugt, dass die Erscheinung in irgendeiner Weise eine Strafe für ihr Eindringen auf verbotenes
Gebiet darstellte. Dann jedoch, als ihre Verwirrung nachließ, erkannte sie, dass es etwas zwar erstaunlich Widerwärtiges,
aber ganz Harmloses war. Mit kaum sichtbaren Drähten befestigt hing von der Decke herab eine Kreatur, etwa so groß wie ein
fünfjähriges Kind, die Ähnlichkeit mit einem getrockneten Seepferdchen hatte. Der Teil des graubraunen Körpers über der Schwanzflosse
war der eines Menschen. Die verkrampften Klauen verdeckten eine weibliche Brust.
Louise nahm ihren ganzen Mut zusammen. Leise trat sie näher und las – wobei sie darauf achtete, das Geschöpf nicht zu berühren
– das Etikett, das an einer Fadenschlaufe an einem Handgelenk hing. In Raouls penibler Handschrift stand da: »Meerjungfrau,
in betrügerischer Absicht gefertigt aus einem Äffchen und einem Fischschwanz, wurde von mir einem Matrosen abgekauft, der
viele ähnliche Kreaturen herstellte und um teures Geld an Panoptiken verkaufte.«
Sie atmete tief durch. Es war seltsam, aber die bloße Tatsache, dass Raoul diesen Zettel geschrieben hatte, nahm ihr viel
von ihrer Angst. Er war der Herr dieser Sammlung gewesen, das erschien ihr als hinreichende Beruhigung. Dennoch sah sie sich
besorgt um, was der im Verhältnis zu seiner Länge recht schmale Raum noch an Erschreckendem bereithalten mochte.
An beiden Wänden zogen sich weiß lackierte Metallgestelle mit teils offenen, teils mit fadenscheinigen grünen Vorhängenverschlossenen Fächern entlang. Dazwischen standen Vitrinen mit schrägen Glasdeckeln. Das Licht hoch oben an der Decke spiegelte
sich in zylindrischen Gläsern. Als Louise langsam von einer Seite zur anderen schritt, immer auf irgendeinen gräulichen Anblick
gefasst, fand sie in den Fächern ein skurriles Sammelsurium von getrockneten Fledermäusen und Fröschen, farbigen Pulvern aller
Art, in Weingeist eingelegten Insekten, verkrümmten Wurzeln und trüben Tinkturen. Raoul hatte sich offenbar intensiv mit den
fremdartigen Drogen und Paraphernalia befasst, die der Schiffsverkehr aus aller Herren Länder nach Hamburg brachte, denn alle
diese Absonderlichkeiten galten irgendwo auf der Welt als Heilmittel. Sie fragte sich, wie das wohl sein mochte, wenn man
einen verschrumpften Frosch als Mittel gegen Zahnschmerzen oder eine in Spiritus schwimmende Schlange gegen Magenweh verordnet
bekam. Ihr schauderte.
Auf dem schrägen Pult einer Glasvitrine lagen, eng mit unentzifferbaren Lettern bekritzelt, Amulette aus Pergament, Muschelschalen
und gegerbter Tierhaut, daneben ein Dutzend Fraisenketten, wie sie zum Schutz vor Krämpfen an die Wiege gehängt wurden. Manche
bestanden aus den Wirbelknochen von Schlangen, andere aus Schnüren, an die Schutzbriefe, Heiligenbilder, Steine und Münzen
geknüpft waren. Gleich daneben fand sich ein zierlich gehäkeltes »Loreto hemdchen «, dessen Fraisen abwehrende Wirkung auf der Fürbitte der Heiligen Jungfrau von Loreto beruhte. Überhaupt gab es viele fromme
Heilmittel wie aus Wachs oder Silber gefertigte Körperteile, die den himmlischen Fürsprecher daran erinnern sollten, wo es
dem Bittsteller wehtat, und sogar briefmarkengroße Oblaten, auf die verschiedene Heilige aufgedruckt waren – »Essbilder«,
die verschluckt wurdenund von innen heraus ihre heilsamen Kräfte entfalten sollten.
Andere Vitrinen enthielten üble Dinge, darunter ein Satz Abtreibungswerkzeuge aus Eisendraht, der Rost angesetzt hatte. Da
war auch noch ein Buch, das den Titel trug: »Heil same Dreck-Apotheke, wie nemlich mit Koth und Urin alle, ja auch die schwerste gifftigste Kranckheiten und bezauberte Schaden
vom Haupt biß zum Füssen inn- und äusserlich glücklich curiret worden sind, componirt von Herrn Kristian Frantz Paullini,
kaiserlicher Leibarzt und Historiograph.« Und als könnte es nicht mehr schlimmer kommen, hatte Raoul unter einem zierlichen
Salbentöpfchen mit der Aufschrift »Axungia hominis« vermerkt:
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