Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
»In allen Arzneibüchern vom Ende des 16. bis zum Ende des 18. Jh. wird Menschenfett aufgeführt. So berichtet z. B. Johann Becher in seinem Werk ›Parnassus medicinalis illustratus‹ aus dem Jahre 1663: ›Zerlassen Menschenfett ist guot for
lahme glieder. So man sie darmit schmiert, sie werden richtig wieder.‹ Als besonders wirksam wurde dabei jenes Fett eingestuft,
das von Menschen stammte, die gewaltsam – beispielsweise auf der Richtstätte – ums Leben gekommen waren. Es war daher auch
unter dem Namen ›Armesünder-Fett‹ bekannt.«
Louise wich angeekelt zurück. War das möglich, dass man solches Übelkeit erregende Sudelzeug wirklich einmal für heilsam gehalten
hatte?
Da hörte sich die Inschrift unter einem barock bemalten Standgefäß schon besser an: »Theriaca Andromachi, Allheilmittel aus
99 Bestandteilen, darunter Opium, Vipernfleisch, Harze, Gewürze, Honig etc., durfte jahrhundertelang in keiner Apotheke fehlen.
Das Präparat gewann später auch international wirtschaftliche Bedeutung.«
Nun, dachte Louise, ohne Vipernfleisch schmeckte es vielleicht gar nicht einmal so schlecht.
Ein Stück weiter fuhr sie heftig zusammen, weil sie glaubte, einer weißen Gestalt gegenüberzustehen. Es war jedoch nur ein
in der dunklen Nische zwischen zwei Metallgestellen hängendes weites, faltiges Gewand. Sie trat näher und sah, dass es sehr
alt sein musste. Es war fadenscheinig und vergilbt, die kabbalistischen Zeichen verblasst, mit denen es von oben bis unten
bemalt war. Raoul hatte dazu vermerkt: »Rarität. ›Not hemd ‹ aus dem Besitz der Grafen von S.; der Träger meinte sich im Krieg gegen alle feindlichen Waffen gefeit. Unter Anwendung
schwarzmagischer Riten hergestellt.«
Gegenüber prangte in einer verglasten Nische ein anatomisches Objekt. Es war die bis zu den Hüften dargestellte, lebensgroße
Wachsfigur einer schönen jungen Frau. Ihr wergfarbenes Haar – echtes Menschenhaar – war zu einer Frisur hochgetürmt, wie man
sie im Rokoko getragen hatte. Um ihren Hals hing seidig schimmernd eine Perlenkette. Ihre Brust mitsamt den Rippen aber war
aufgeklappt wie ein Schränkchen, in dem bunt gefärbt die inneren Organe lagen.
Solche Dinge also hatte Raoul gesucht, wenn er auf die Geschäftsreisen gegangen war, auf denen ihn der Magister begleitete.
Sie waren nach Holland und England gefahren, angeblich, um in Amsterdam und London seltene Gefäße, Instrumente und Spezereien
zu erwerben, und waren jedes Mal mit vielen Kisten heimgekommen. Zweifellos hatten sie auf diesen Reisen die finstersten Ecken
der Hafenstädte durchstöbert, um »Schätze« wie die Dreckapotheke zu ergattern. Es erschreckte Louise ein wenig, dass ihr biederer,
liebenswürdiger Gatte sich mit so dunklen Dingen abgegeben hatte, aber gleichzeitig war sie auf eine wunderliche Weise stolz
aufihn. Hätte er sie nur teilhaben lassen an seiner geheimen Leidenschaft! Sie hätte sich rasch daran gewöhnt, hätte ihm geholfen,
weitere Raritäten zusammenzutragen. Es hätte sie tiefer miteinander verbunden. Aber sie war nur seine Frau gewesen, sein Püppchen,
sein Spielzeug, dessen ernsthaftes Interesse an seinem Lebenswerk er für kindliche Tändelei gehalten hatte. Wie hatte der
Magister zu ihr gesagt? Eine Apotheke sei kein Puppenhaus, in dem man zum Vergnügen herumkrame. Bitterer Groll stieg in ihr
auf. Sie empfand Zorn über die Missachtung durch ihren Ehemann und heftige Eifersucht gegenüber dem Magister, der in diesen
Dingen der Vertraute ihres Gatten gewesen war. Sie fühlte, dass Raoul sie betrogen hatte mit einem Mann, dem er seine Geheimnisse
anvertraute, mit dem er Stunden in der Thesaurus-Kammer verbrachte.
Sie ging vorbei an der bunt bemalten Holzfigur eines Mohren, dessen Brust aus lauter winzigen Schubladen bestand, und stieß
in der Nische zwischen zwei Vitrinen auf eine Schatulle, mit rotem Lack überzogen, wie Louise es von Chinoiserien her kannte.
In ihrem Deckel befand sich eine kreisförmige Vertiefung, die sie an etwas erinnerte. Dann plötzlich fiel es ihr ein.
Die Scheibe! Diese auf roten Glanzkarton geklebte Pergamentscheibe mit den asiatischen Charakteren, die keiner von ihnen lesen
konnte. Sie musste sich hier auf dem Deckel befunden haben als eine Art Etikett, ein Hinweis auf den Inhalt. Und die Notiz
des Händlers bedeutete, dass diese Schatulle speziell für Raoul gefertigt oder jedenfalls an ihn ganz persönlich verkauft
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