Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
zugewandt, mit tiefer Bitterkeit in der Stimme. »Nimm es mir also nicht übel, wenn ich mich
in ungebührlicher Hast von dir verabschiede.«
»Zum Verabschieden war Zeit genug«, erklärte Paula in beißendem Ton. »Du hättest die Nacht bei ihm wachen müssen, anstatt … Nun, ich sage nichts mehr!«
Louise mochte die selbstgerechte Paula zwar nicht und ihre Meinung war ihr auch nicht viel wert – dennoch hatte sie in einem
Punkt recht: Louise hätte die Nacht nach Raouls Tod nicht mit Frederick verbringen dürfen. Sie hätte diese Stunden über am
Totenbett ihres Gatten wachen müssen.
Vermutlich wäre es – da auch Hermine ihre Meinung kundtun wollte – zu einem bissigen Wortwechsel gekommen, aber da kam Dr. Thurner durch die Tür und trat an den offenen Sarg heran.
Er beugte sich tief darüber, zog hörbar durch die Nase hoch und bemerkte: »Es ist höchste Zeit, dass ihr sein Gesicht mit
einem Schleier bedeckt, seine Nasenspitze verfärbt sich nämlich schon. Und die Fenster solltet ihr auch die ganze Nacht offen
lassen.«
Hermine erstarrte vor Entrüstung angesichts dieser rohen medizinischen Kommentare, aber da sie nichts mehr fürchtete als irgendeinen
peinlichen Zwischenfall beim Zeremoniell, sandte sie eilig um ein Chiffontuch, das über das Gesicht gebreitet und auf dem
Damastkissen des Sarges festgesteckt wurde.
Louise sah dabei zu, und plötzlich stellte sie fest, dass sie beim Anblick der Leiche nichts mehr empfand – überhaupt nichts.
Soweit es ihre Gefühle anging, hätte hier ein abgetragener Mantel liegen können. Vielleicht, dachte sie, war es gut so, dass
ihre Zuneigung zu Raoul in den Monaten seinerKrankheit zusehends erkaltet war. Ihre momentane Gefühlskälte machte ihr den Abschied leichter. Zumindest fühlte sie sich
nicht mehr wie ein aus dem Nest gefallener Vogel.
Das Dienstmädchen, das Hermine mitgebracht hatte, kam herein und teilte mit gedämpfter Stimme mit, der Priester des Konvents
»Mutter der Gnaden« sei da. Er würde die Einsegnung am offenen Sarg vornehmen. Die Vorstellung hatte sich durchgesetzt, dass
ein Segen bei geschlossenem Sarg nur begrenzt wirksam sei und kam deshalb nur als zusätzliche Zeremonie infrage.
In feierlicher Prozession erschien ein Kreuzträger in weißem Chorhemd, dann zwei Kerzen tragende Messbuben, dahinter der Priester
im Trauerornat und ein Sakristan, der Weihrauchkessel, Weihwasser und Palmwedel trug. Die Nonnen und Familienangehörigen knieten
angesichts des hochwürdigen Herrn nieder. Mit aufrichtiger Ehrfurcht hörten sie zu, wie die beiden Jungen und der Kreuzträger
ein Responsorium sangen, während der Sakristan den Weihrauchkessel schwenkte. Dichte Schwaden zogen durch den Raum und überdeckten
den etwas ranzigen Geruch, den der tote Körper mittlerweile verströmte. Der Priester trat an den Sarg heran, besprengte den
Leichnam mit Weihwasser und sang mit volltönender Stimme die lateinischen Worte des Segens.
Louise fühlte sich plötzlich so fehl am Platz, dass ein hysterisches Lachen in ihrer Kehle aufstieg. Wenn Raoul, der ein frommer
Mann gewesen war, mit seiner Ansicht recht gehabt hatte, dann hatte er sich längst von dieser verfallenden Hülle gelöst und
amüsierte sich vielleicht darüber, wie viel Geld und Aufmerksamkeit sie noch darein investierten.
Rasch nestelte sie ihr Taschentuch aus der Kleidertasche und hustete kräftig hinein, um ihr Lachen zu unterdrücken.
Sie war dankbar, dass das Zeremoniell nun begonnen hatte – jene feierlichen Riten, die Schritt für Schritt die Kluft zwischen
der Welt der Lebenden und der Toten verbreiterten.
Aus vergangenen Tagen tauchte die Erinnerung auf, wie eine der Erzieherinnen im Waisenhaus anlässlich des Todes einer alten
Köchin von der Bedeutung dieser Riten erzählt hatte, die dazu dienten, den Verstorbenen aus der Welt der Lebenden hinüberzubegleiten
in das Reich der Toten, mit aller Ehrfurcht, aber doch entschieden genug, um ihn an der Rückkehr zu hindern. Louise hörte
noch ihre Stimme: Die Toten hassen die Lebenden, deshalb muss man darauf achten, dass sie nicht in unserer Welt hängen bleiben,
sondern hinübergehen, wo sie hingehören, sei es das Fegefeuer oder der Himmel. Deshalb dürfe man sie vom Augenblick des Todes
bis zum Schließen des Grabes nicht allein lassen, sondern müsse an ihrer Seite Wache halten, damit ihre Seele nicht die Gelegenheit
nutze, sich irgendwo zu verkriechen und im Sterbehaus zu
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