Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
ferne Kirchenglocken. Ihr Kopf fühlte sich leer an, und eine bedrohliche Kälte umklammerte ihr
Herz.
Julius Aloysius von Pritz-Toggenau, der Universalerbe all der Kisten und Kasten voll Geld, des schönen Bürgerhauses, der Apotheke!
Ausgerechnet der Schwager, den Raoul kaum jemals gesehen und den er von Herzen verachtet hatte. Raoul hatte Wert darauf gelegt,
dass Menschen sich seiner Güte würdig erwiesen, wie es Frederick und Schlesinger und auch sie, Louise, getan hatten. Er wollte
Früchte ernten, wenn er sein Geld und sein Wohlwollen säte. Einen dürren Baum, der keine Frucht trug, ließ er fällen – wie
in der Bibel. Welche Wut musste ihn erfüllt haben, dass er bereit gewesen war, die Perlen vor die Säue zu werfen, nur um seine
Angehörigen zu kränken!
Paula, die stumm dagestanden hatte, kam allmählich wieder zu sich. Rote Flecken machten sich auf ihren Wangen breit, ihr Gesicht
war verzerrt vor Wut. »Das stimmt nicht!«, kreischte sie. »Das kann nicht sein! Wie können Sie so etwas sagen!« In ihrer wilden
Erregung hüpfte sie einen Schritt vorwärts und machte eine Bewegung, als wollte sie den Baron packen und schütteln, kam aber
angesichts der Größenverhältnisse von diesem Vorhaben ab. »Ich habe selbst das Testament gesehen, in dem er mir eine Rente
aussetzte. Dieser Wisch ist überhaupt nicht gültig! Den hat jemand gefälscht!«
Fredericks Gesicht war bleich von unterdrücktem Zorn. Dass Raoul ihm nichts hinterließ, hätte er verkraften können – aber
dass er seine Kisten und Kasten voll Geld diesem Kretin vermachte, der sich davon wahrscheinlich als Ersteseinen neuen Äther-Inhalationsapparat kaufen würde, das schnürte ihm die Kehle ab. Mit gepresster Stimme sagte er: »Ein solches
Testament kann nicht gültig sein.«
»Oh doch, das ist gültig. Dr. Schelling hätte es uns sonst nicht gegeben«, erklärte Emil.
Hermine verkündete stolz: »Mein Gatte ist der Universalerbe, daher wird er ab sofort hier wohnen, und wir mit ihm. Du bist
hier fehl am Platz, liebe Louise, also pack deine Koffer und verlasse das Haus! Du wirst sicher auch anderswo ein Dach über
dem Kopf finden.« Sie schaute abfällig zu Frederick.
Louise wurde schwindlig. Ihre Stimme war heiser, als sie antwortete: »Ich denke nicht daran, hier auszuziehen, und Frederick
und Paula bleiben ebenfalls!«
»Dann lasse ich dich mit der Polizei hinauswerfen! Emil, würdest du dafür sorgen?«
»Die Polizei?«, schrie Louise. Tränen des Zorns rannen ihr über die Wangen. »Wenn die Polizei kommt, kommen auch die Zeitungen,
dafür werde ich sorgen, und wie würde dir ein großes Foto deines Gatten im ›Hamburger Abendblatt‹ gefallen, samt seinem Inhalationsapparat?«
Hermine schluckte. Sie hatte hart gekämpft und das Leben mit einem drogensüchtigen Schwachkopf auf sich genommen, um den Titel
einer Baronin führen zu können. Sie wusste, dass man hämisch über sie tuschelte, ihr vorwarf, sie habe um der Aufnahme in
die adlige Gesellschaft willen ein Wrack geheiratet. Sie durfte nicht zulassen, dass Louise mit ihrer Drohung ernst machte.
Widerwillig antwortete sie: »Also meinetwegen bleib hier. Aber den da« – dabei wies sie auf Frederick – »will ich hier nicht
sehen. Er soll verschwinden, auf der Stelle. Raus!«
»Für ihn gelten dieselben Bedingungen wie für mich, Hermine.«
Die alte Frau zögerte, sie kaute an ihrer Unterlippe herum und fuhr sich in das mit vielen falschen Locken aufgeputzte Haar.
Ihr wurde bewusst, dass die Träger und Dienstboten mit offenem Mund dastanden und angespannt lauschten, gab es doch nichts
Interessanteres als einen Streit unter der Herrschaft. Wenn die Debatte sich noch lange hinzog, würde eine Menge schmutziger
Wäsche gewaschen. Es war besser, sie zu einem anderen Zeitpunkt weiterzuführen. Sie wandte sich abrupt ab und keifte über
die Schulter zurück: »Er soll mir nicht unter die Augen kommen!« Dann klatschte sie laut in die Hände. »Was steht ihr hier
alle herum? An die Arbeit!«
Das Personal eilte nach allen Richtungen davon. Louise sah, dass es sich bei der Köchin um ebenjene Jakobine Stokhamer handelte,
die sie eben erst verabschiedet hatte. Mit einem schmallippigen Lächeln des Triumphs stieg die Frau die Treppe in ihr wiedergewonnenes
Reich hinunter.
Hermine war sichtlich entschlossen, ihre neue Rolle als Hausherrin vom ersten Augenblick an wahrzunehmen. Sie befahl: »Emil,
wir beginnen sofort mit
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