Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
als sie zurücktrat, den Schleier wieder ins Gesicht zog und den anderen Platz machte.
Zwar hatte Polizeirat Heidegast ihre Unschuld offiziell bestätigt. Aber man wusste ja, wie das mit falschen Beschuldigungen
war: Waren sie erst einmal ausgesprochen, haftete auch nach Jahren noch der Verdacht an der verleumdeten Person.
Lady Harrington trat aus der Schar der Gäste hervor, ergriff Louises Ellbogen und führte sie, leise und tröstlich auf sie
einredend, beiseite.
Einer nach dem anderen näherten sich die Verwandten und streuten Erde auf den Sarg. Ihnen folgte Frederick Hansen, der sichtlich
von tiefer Trauer erfüllt war. Er trat mit schweren Schritten an das offene Grab heran und seufzte, als er aus derHand des Totengräbers die kleine Schaufel mit Erde entgegennahm und sie über der Grube leerte. Sein Gesicht war bleich.
Nachdem man den Leib des Apothekers der Erde übergeben und seine Seele in die Hände des gnädigen Herrn gelegt hatte, kehrten
die Trauergäste nach Hause zurück – in getrennten Gruppen, die kein Wort miteinander wechselten.
Kriminalpolizeiinspektor Ludwig Gützlow fuhr in seinem Einspänner langsam eine der schlammigen Alleen entlang, ohne sich darum
zu kümmern, dass der feine Nieselregen stetig auf seinen Hut fiel. In Gedanken ließ er die Zeremonie Revue passieren. Niemand
hatte sich auffällig benommen, das hieß, sie hatten alle das getreue Bild einer in sich zerstrittenen Familie geboten, ohne
sich sonst irgendwie verdächtig zu machen.
Es würde interessant sein, wie sie reagierten, wenn sie das Testament zu sehen bekamen. Sein Mund zog sich mit einem fiesen
Ausdruck in die Breite. Er hatte es nämlich gesehen, hatte eigens deswegen die Anwaltskanzlei Schelling aufgesucht. Was für
ein abstruser Wisch! Natürlich würden sie es anfechten. Jeder vernünftige Mensch würde das tun. Auf jeden Fall würde es gewaltigen
Streit geben, und das war sehr vorteilhaft für die Polizei, weil dabei häufig Dinge zutage traten, die andernfalls verborgen
blieben.
Mit frischer Hoffnung machte er sich auf den Weg in sein Amtszimmer im Stadthaus auf dem Neuen Wall, um einen seiner Untergebenen
mit Nachforschungen um den Verbleib des Magister Schlesinger zu beauftragen.
E in boshaftes T estament
1
Am Tag nach der Beisetzung gab es im Kontorhaus am Jungfernstieg vor allem ein Gesprächsthema: das unerklärliche Verschwinden
des Magister Schlesinger. Es schien, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Seine Frau erzählte, dass er am Morgen in seinem
Einspänner losgefahren war, um dem Begräbnis seines Dienstherrn beizuwohnen, aber dort war er nie angekommen, und niemand
wusste, wo er abgeblieben war. Louise hatte ohne Wissen der anderen im Thesaurus nachgesehen. Schließlich war es möglich,
dass er sich dort aufhielt, aber auch in diesem geheimen Gelass war keine Spur von ihm zu finden. Es blieben drei Möglichkeiten:
ein Unfall, ein Gewaltverbrechen oder er war – aus welchem Grund auch immer – freiwillig aus ihrem Blickfeld verschwunden.
»Ich kann mir nur vorstellen, dass er verunglückt ist und irgendwo in einem Krankenhaus liegt und nicht sagen kann, wer er
ist«, mutmaßte Louise. »Freiwillig würde er die Apotheke keinen Augenblick aus den Augen lassen. Und er ist schließlich nicht
der Mann, der sich auf eine Sauftour begibt.«
Frederick lachte bei der Vorstellung. »Nein, wahrlich nicht.« Dann wurde sein Gesicht ernst. »Ich hoffe, ihm ist nichts zugestoßen.Er ist ein Teil der Apotheke, ohne den ich sie mir gar nicht vorstellen möchte.«
Die beiden jungen Leute saßen einander im kleinen Salon gegenüber und aßen am Teetisch eine Mahlzeit, die Frederick aus dem
›Goldenen Hahn‹ geholt hatte. Louise hatte keinen Appetit, aber sie sah ein, dass sie essen musste.
Sie waren eben beim Nachtisch, als die Haustür aufgesperrt wurde und in der Halle ein gewaltiges Gepolter ertönte. Überrascht
sprangen beide auf, liefen auf den Korridor und beugten sich über das Treppengeländer. Ein Stockwerk unter ihnen brannte das
Licht, die Haustür stand weit offen, und mehrere Dienstboten schleppten Koffer herein. Ihnen folgten die schöne Eugenie von
Pritz-Toggenau, in ein weißes Pelzcape gewickelt, und Hermine, die sich umsah wie ein Feldherr in einer eroberten Festung.
Louise hörte sie rufen: »Emil? Sag den Leuten, sie können kommen.«
Starr vor Staunen sah die junge Frau zu, wie eine feierliche Prozession in der Tür erschien.
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