Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
Eine
Deutsche, die in den afrikanischen Kolonien eine Apotheke betrieb, wollte im Hause Harrington einen Vortrag halten.
6
In Hamburg glich der April einer gelblich blassen regennassen Blüte, die sich widerwillig dem kalten Wind öffnete. Der Himmel
war von dünnen Wolkenschleiern bedeckt, die unruhig hin und her wirbelten. Louise zog den samtbesetzten Umhang enger um die
Schultern. Sie war zu Fuß unterwegs, denn für den kurzen Weg lohnte sich eine Droschke nicht.Zerzaust und mit feuchten Knöpfelschuhen erreichte sie das breitbrüstige pistaziengrüne Patrizierhaus, dessen Fenster im ersten
Stock in hellem Licht erstrahlten.
Ihr war ängstlich zumute. Sie erinnerte sich an die trübseligen Geselligkeiten im Waisenhaus, wo es dünnen Kaffee und bröckligen
Kuchen gab und eine der Lehrerinnen auf dem Spinett spielte. Dann wieder fürchtete sie, als die Dümmste unter all diesen gebildeten
Frauen dazustehen. Auf keinen Fall war sie so selbstbewusst wie diese. Außerdem ärgerte sie der Gedanke, dass sie in diesem
Kreis nur akzeptiert würde, wenn sie genauso dachte wie Amy. Das tat sie aber nicht; es war ja gerade diese befehlsgewohnte
Halsstarrigkeit ihrer Freundin, die sie als Wermutstropfen im süßen Wein ihrer Freundschaft empfand. Aber sie wagte auch nicht,
einer ganzen Horde entschlossener Suffragetten mit ihren eigenen Ansichten entgegenzutreten.
Sie klopfte. Der Butler öffnete die Tür, und Louise fühlte sich angesichts der würdigen, zurückhaltenden Art des Engländers
klein und erbärmlich. Sie hätte dumm und ohne ein Wort zu sagen auf der Schwelle gestanden, wäre Amy nicht im Hintergrund
der Halle erschienen und freudig auf sie zugestürzt.
»Louise, my dear! Wie mich das freut, dass du kommst. Wir müssen uns beeilen, der Tee ist bereits serviert, und Fräulein Becker
wird in fünf Minuten ihren Vortrag beginnen. Hurry up!«
Sie schälte Louise aus Mantel und Hut, warf beides dem Butler in die Arme und zog die Freundin an der Hand hinter sich her
die Freitreppe hinauf.
Oben standen die Flügeltüren des Salons offen, Klaviermusik drang heraus und ein Zwitschern vieler Frauenstimmen,das sich anhörte wie der Lärm von Vögeln, der aus einer Voliere drang, wenn man direkt davor stand. Louise wurde hineingeschoben
und zum Buffet geführt, auf dem Platten mit pikanten Kanapees angerichtet waren. Sie bekam Tee und Sherry und wurde dann zu
einem der Stühle gebracht, die in Reihen hintereinander aufgestellt waren. Wenigstens blieb es ihr für den Anfang erspart,
zwei Dutzend Frauen vorgestellt zu werden, deren Namen sie sich in der Eile niemals gemerkt hätte. Eine gedrungene, vollbusige
Dame im Reisekostüm trat neben das Klavier und dankte mit einer Kopfbewegung für den Applaus, der ihr Erscheinen begleitete.
Fräulein Becker, die Afrikareisende, dachte Louise. Mit fester, klarer Stimme hielt die Apothekerin ihren Vortrag.
Aufmerksame Stille herrschte rundum. Hier gab es nichts von dem Geschwätz und Gekicher, das junge Damen sonst nicht einmal
in der Kirche unterdrücken konnten. Einige machten sich eifrig Notizen, während sie zuhörten. Louise war so gebannt von der
Atmosphäre, dass sie von dem Vortrag so gut wie gar nichts mitbekam. Auch die Fragen, die nachher gestellt wurden, entgingen
ihr weitgehend. Sie fasste sich erst, als die Damen aufstanden und sich unter angeregten Gesprächen zum Buffet begaben.
»Well, wie hat es dir gefallen?«, fragte Amy erwartungsvoll.
»Ich bin beeindruckt.« Das jedenfalls konnte sie ohne schlechtes Gewissen bekennen. Sie hoffte nur, Amy wollte sich nicht
mit ihr über den Inhalt des Vortrags unterhalten.
Die jedoch war schon dabei, von Fräulein Becker zu schwärmen. »Man merkt sofort, dass diese Frauen aus den Kolonien keine
Gänschen sind, nicht wahr? Zimperliesen werden dort nicht alt. Da werden Mann und Frau gleichermaßen gefordert. Hast du gehört,
wie sie erzählte, dass sie ofttagelang zu Pferd unterwegs war? Ich bewundere sie!« Amy drehte sich zu Fräulein Becker um und machte ein Gesicht, als wollte
sie der beherzten Dame gleich einen Blumenstrauß zuwerfen.
Louise lachte. »Meine Güte, du siehst richtig verliebt aus.«
»Begeisterung und Verliebtheit sehen einander sehr ähnlich. Es stimmt, Louise: Wenn ich in der Gegenwart solcher Frauen bin,
dann klopft mir das Herz, mir werden die Knie weich, ich bringe kaum ein Wort hervor. Sieht man an ihnen nicht, was für herrliche
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