Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
ständigen Schlägereien nicht viel eingefallen ist.« Seine Lippen kräuselten sich spöttisch, aber nur einen Augenblick lang,
dann erstarrte sein Gesicht wieder zu der üblichen wächsernen Maske.
»Und die alten Hebräer?«, fragte sie.
»Waren das erste Volk, das umfassende Hygienevorschriftenerließ. Es ist sehr interessant, Moses und die Propheten unter diesem Blickwinkel zu lesen. Große Ärzte gab es unter den Juden
zumindest zu dieser Zeit nicht, aber wie kein anderes Volk hielten sie eine strenge Hygiene ein, die als kultische Vorschrift
verstanden wurde.«
Wo es möglich war, hatte er sich die Rezepturen verschiedenster Pulver und Gebräue beschafft, und er erläuterte Louise, was
sie enthielten und wie sie wirkten.
Sie war jedes Mal enttäuscht, wenn Schlesinger am Ende eines solchen Vortrags auf seine Taschenuhr blickte und sich entschuldigte,
er müsse jetzt aufbrechen, da seine Frau sich sonst Sorgen mache. Dann hielt sie ihn am Ärmel fest. »Das war aber nicht das
letzte Mal, oder? Sie erklären mir die übrigen Präparate auch noch?«
»Gewiss«, antwortete er in einem gemessenen Ton, aber seine dunklen Augen glänzten freudig, und ein Hauch von Rot zog über
seine elfenbeinglatt rasierten Wangen. »Wenn Sie es wünschen, gerne – sehr gerne.«
5
Amy sah es als ihre Pflicht an, die Witwe zu beschützen, und kümmerte sich auf ihre Art um sie: Sie erteilte ihr jede Menge
Ratschläge und warnte sie vor diesem und jenem. In mancher Hinsicht war Louise recht dankbar, dass die welterfahrene Lady
ihr unter die Arme griff. Amy fand für sie eine Wirtschafterin, die sich um die Wohnung kümmerte und kochte, und eine junge
Frau, eine Mulattin, die als Zofe fungierte,wenn Louise ausging – ohne Zofe konnte sich eine reiche Dame nun einmal nicht blicken lassen! Beide waren sehr geschickt in
ihrem Dienst, vor allem aber waren sie diskret; keine machte je eine Bemerkung darüber, dass Frederick mit Louise die Wohnung
teilte. Zuweilen musste Louise schmunzeln, wenn Jeanne, die Mulattin, sogar in seiner Gegenwart so tat, als existierte er
nicht.
Natürlich wäre es für Louise und ihren Geliebten ein Leichtes gewesen, sich mit ihrem vielen Geld eine elegante Wohnung zu
mieten, aber die Witwe liebte ihre kleine, behagliche Bleibe über der Apotheke, und auch Frederick hatte kein Interesse daran
umzuziehen – einmal ganz abgesehen davon, dass er Tag und Nacht in Louises Nähe sein wollte.
Leider sah Amy es als ihre Pflicht an, Louise bei jeder Gelegenheit vor Frederick zu warnen. Diesem war das Verhalten der
englischen Lady zuwider, und Louise wäre es lieber gewesen, Amy hätte sich in einer anderen Form gekümmert; sie konnte es
nicht mehr mitanhören, wenn die Engländerin bei jeder Gelegenheit über die Männer herfiel. Immer öfter kam ihr der Gedanke,
dass sich Amys Hass auf die Männer nicht allein durch ihre emanzipatorische Haltung erklären ließ. Sie war überzeugt, dass
es im Leben ihrer Freundin ein Geheimnis gab, das diese ihr nicht enthüllen wollte. Hegte sie eine große, unerwiderte Liebe
zu einem Mann? Trauerte sie um einen verstorbenen Geliebten? Fühlte sie sich vom gleichen Geschlecht angezogen? Oder hatte
sie der Tod ihrer Mutter und die lange Witwerschaft des Vaters zutiefst erschüttert, und sie wagte es nicht, sich auf eine
Beziehung einzulassen, um niemals den Schmerz erleiden zu müssen, den der Verlust eines Partners bedeutete? Glaubte sie nicht
an die Liebe zwischen Mann und Frau? Louise wusste es nicht. So neugierigAmy anderen Menschen gegenüber war, so gut wusste sie ihre eigenen Geheimnisse zu hüten.
Meistens jedoch nahm Louise die junge Lady Harrington, wie sie war, und freute sich, dass sie nun eine richtige Freundin hatte,
eine, die hübsch und klug und warmherzig war und ihr das Gefühl gab, etwas ganz Besonderes und Wunderbares zu sein, einfach,
weil sie eine Frau war. Sie genoss es, umarmt und auf die Wangen geküsst zu werden, jedenfalls von Amy. Was andere Frauen
anging, hatte sie sich doch eine gewisse Skepsis bewahrt.
Amy bemühte sich sehr darum, Louise die Welt der modernen Frau zu eröffnen. Sie bedrängte sie ständig mit Einladungen zu Vorträgen,
Lesungen und Studiennachmittagen zu ernsten Themen und war pikiert, wenn Louise ablehnte, um ihre Zeit mit Frederick zu verbringen.
Einmal allerdings war ein Thema dabei, das ihr Interesse erweckte und ihr tatsächlich ungeahnte Perspektiven eröffnete:
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