Die Frau des Apothekers - Sandmann, C: Frau des Apothekers
Verantwortung ziehen.«
An dieser Stelle mischte sich Eugenie in die Debatte ein, und während Hermine abwechselnd weinte und schimpfte, kündigte die
junge Frau an: »Ich sorge dafür, dass ganz Hamburg von deinem Treiben erfährt. Du spielst dich als Wohltäterin auf, in Wahrheit
aber hast du alles dafür getan, um uns, die rechtmäßigen Erben, auf die Straße zu setzen. Was aus uns wird, ist dir völlig
egal! Ich hasse dich, Louise Paquin, ich hasse dich zutiefst!« Sie war bleich, und Louise erkannte, dass sie weniger wütend
als unendlich verzweifelt war. Ihre Hoffnungen, ihre Schönheit und Jugend zu Geld zu machen und reich zu heiraten, schienen
mit einem Mal zerstört.
»Spare dir deine Gefühlsausbrüche, Eugenie. Du bist kein kleines Kind mehr und solltest lernen, Haltung zu bewahren«, wies
Louise ihre Nichte, die gleich alt war wie sie selbst, zurecht. »Wenn dein Plan, reich zu heiraten, nicht aufgeht, schiebe
es nicht mir in die Schuhe. Ich gehe jetzt und lasse mich auf keine weitere Diskussion mehr mit euch ein. Ihr verschwindet
hier mitsamt euren Dienstboten! Drei Tage.« Sie hob warnend drei Finger und wandte sich zum Gehen.
Drei Tage später waren Hermine, ihre Kinder und das Personal tatsächlich aus dem Haus verschwunden, während Abbé Maxiant mit
vier Klosterschwestern und zehn Bediensteten einzog. Mit ihm kamen dreißig Mädchen, die jüngsten fünf, die ältesten sechzehn
Jahre alt.
Louise, Frederick und Amy sahen wortlos zu, wie ein Mädchen nach dem anderen vom Wagen gehoben und in das neue Quartier geführt
oder getragen wurde. Sie trugen braune Kattunkleider mit weißen Kragen und Aufschlägen und hatten das Haar kurz geschnitten,
weil es so weniger Arbeit machte, sie zu baden und zu frisieren. Von den Neuankömmlingen waren drei blind, mehrere gingen
auf Krücken, einige sahen schwachsinnig aus, und wieder andere mussten getragen werden, weil sie auf ihren gelähmten Beinen
nicht laufen konnten. Nur wenige sahen hinreichend gesund aus, um sich selbst helfen zu können.
Amy flüsterte entsetzt: »Was für unglückliche Kinder!«
»Sie tun Ihnen bloß leid, weil es Mädchen sind«, murrte Frederick. »Wären es Jungen, könnten sie auf der Straße verrecken.«
Amy setzte zu einer heftigen und ausführlichen Antwort an, aber Louise unterbrach die Debatte energisch. »Ich habe eure ewigen
Zänkereien satt. Ich will keinen von euch beiden verlieren, also versucht, so gut wie möglich miteinander auszukommen.«
Die Kinder, an das karge Ambiente eines geistlichen Waisenhauses gewöhnt, staunten über die prächtige Einrichtung, betasteten
neugierig die dicken Teppiche und vergnügten sich damit, die türkischen Muster mit den Fingern nachzuzeichnen. In den weitläufigen
Kellergewölben des Hauses befanden sich trotz des gierigen Zugriffs der Pritz-Toggenaus immer nochmehr als genug Vorräte, um die Kinder eine ganze Weile lang zu ernähren, besser, als es der Geistliche mit seinem schmalen
Geldbeutel bislang zustande gebracht hatte.
Louise stellte mit Freuden fest, dass Frederick von der neuen Nachbarschaft ebenso angetan war wie sie. Auch Sigmund Schlesinger
zeigte Interesse. Er stellte dem Abbé eine Menge Fragen, an welchen Krankheiten und Beschwerden die Kinder vorwiegend litten
und welche Heilmittel bestellt werden sollten.
Von allem Anfang an war klar, dass die Apotheke eine bedeutende Rolle bei der Führung des Pflegeheims spielen würde, und zwar
in doppelter Weise, denn Louise hatte einen Plan gefasst. Alle diese Mädchen wurden, soweit ihre Gebrechen es zuließen, in
der Hauswirtschaft ausgebildet, lernten nähen, sticken, kochen – warum sollten sie da nicht auch Unterricht in der Hauskrankenpflege
erhalten? Nicht alle würden diese Kenntnisse auch anwenden können, aber viele würden lernen, ihre eigenen Schmerzen zu lindern,
und auf jeden Fall würden sie alle Vergnügen daran finden, einen Kräutergarten anzulegen. Sie hatte bereits Pläne gemacht,
den Garten des Landhauses an der Alster dafür zu nutzen. Bis es warm genug war, mussten sie sich eben damit begnügen, anhand
getrockneter Kräuter zu lernen.
D ie G iftmischerin
1
Am Montagmorgen fand Polizeirat Heidegast bei der Ankunft in seinem Amtszimmer eine Nachricht vor: Man hatte Paula Hahne ertrunken
aufgefunden. Bootsleuten war ein im eisigen Wasser der Binnenalster treibender Gegenstand aufgefallen, der sich, als sie ihn
mit dem Bootshaken heranzogen,
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