Die Frau des Germanen
Großnichte genauso hingerissen von ihm war, hatte er sie nie gefragt. Römische Ehen wurden selten aus Liebe geschlossen, und
Claudia hatte sich nie beklagt. Ihr Gemahl hielt sich selten in Rom auf, wurde ihr auf diese Weise also nicht lästig. Während
Augustus seine Wertschätzung zeigte, indem er Varus in der Westtürkei, in Syrien und in Germanien einsetzte, führte Claudia |267| ein angenehmes Leben in ihrem römischen Stadthaus, in dem niemand an Varus dachte, solange er nicht höchstpersönlich dort
auftauchte. Claudia schien sogar zu vergessen, dass es ihn überhaupt gab, derart erstaunt war sie jedes Mal, wenn Varus sich
tatsächlich einmal in seinem Hause blicken ließ. Seit er jedoch nicht mehr lebte, spielte sie mit großer Überzeugungskraft
die trauernde Witwe.
»Mein armer Varus!«, rief sie in diesem Moment aus. »Ich mag gar nicht daran denken, wie verzweifelt er gewesen sein mag!
Aber es tröstet mich, dass er sich in sein eigenes Schwert gestürzt hat. Besser, als wäre er in die Hände der Barbaren gefallen!
Was die mit ihm gemacht hätten …«
Severina gab Gaviana ein Zeichen, damit sie sich leise mit Silvanus entfernte, und machte selbst ein paar vorsichtige Schritte
zurück. Doch Silvanus, der nicht verstand, dass seine Mutter nicht bemerkt werden wollte, fragte laut und deutlich, warum
man erst Tante Agrippina besuchen wolle und dann wieder nicht.
Damit war Severinas Plan gescheitert. Sie musste zu Varus’ Witwe gehen, sie begrüßen und sogar zusehen, wie Claudia ihrem
Sohn mit spitzen Fingern die beringte Hand reichte und ihm über das Haar strich, als erwartete sie, Stroh auf seinem Kopf
vorzufinden.
»Diese blonden Haare! Man könnte meinen, dass dieser elende Verbrecher, dieser Verräter, dieser feige, hinterlistige Meuchelmörder
…« Sie brach ab, als versagte ihr die Stimme, plötzlich blickten ihre Augen wieder so aggressiv wie zu ihren besten Zeiten.
»Wann war das eigentlich? Wann hatte der Kaiser diesen unsäglichen Einfall, einen Barbaren mit der römischen Ritterwürde zu
ehren?«
Severina griff nach Silvanus’ Schultern und schob ihn Gaviana entgegen. Die Sklavin verstand sofort, nahm den Jungen an ihre
Seite und verließ mit ihm den Raum.
Im nächsten Moment ärgerte Severina sich über sich selbst. Sie durfte nicht anfangen, Silvanus zu verstecken, dann wurde |268| alles noch schlimmer, damit bestätigte sie nur die Gerüchte, die sich um ihn rankten.
Vor ein paar Jahren noch schien sich alles zum Guten zu wenden. Wohl auch durch Flavus’ Betreiben setzte sich die Auffassung
durch, dass Severina eine Affäre mit Arminius’ Bruder gehabt hatte, von der sie nach Silvanus’ Geburt nichts mehr wissen wollte.
Es schien auch jeder in Rom zu wissen, dass Flavus sie mit Heiratsanträgen bestürmte, von denen sie einen um den anderen ablehnte.
Warum sie Flavus nicht heiraten wollte, wusste niemand, aber Mutmaßungen gab es vermutlich genug. Und sie schienen am Ende
interessanter zu sein als die Überlegung, ob Flavus wirklich Silvanus’ Vater war. Severina war mit dieser Entwicklung sehr
zufrieden.
Doch seit jenem unglückseligen Tag hatte sich die Angst wieder in ihrem Herzen ausgebreitet. Wie eine ansteckende Krankheit
schwärte sie in ihr, schmerzte, schwächte sie. Wenn sie daran dachte, sich von dieser Krankheit zu befreien, ging es längst
nicht mehr um ihre Rache. Arminius musste sterben, so oder so! Nicht mehr nur deshalb, weil er es gewagt hatte, die schöne
Severina, die Enkelin von Kaiser Augustus, abzuweisen, sondern weil er zu einer tödlichen Gefahr für Silvanus geworden war.
Solange Arminius lebte, konnte Silvanus nicht sicher sein. Der Urenkel des Kaisers war nicht in Gefahr, aber der Sohn des
Cheruskerfürsten würde niemals sicher sein können. Man würde ihn töten, weil man seinen Vater nicht töten konnte. Alles, was
man seinem Vater nicht antun konnte, würde Silvanus erleiden müssen. Nein, nicht einfach töten würde man ihn, sondern zu Tode
quälen. Jeden möglichen Schmerz würde man ihm zufügen wollen, jede nur denkbare Erniedrigung. Sämtliche Mitglieder der römischen
Gesellschaft hatten Familienangehörige durch Arminius’ Schuld verloren. Der Hass auf ihn war so gewaltig, dass der Kaiser
sich am Ende überlegen mochte, ob das Volk zu beruhigen sei, wenn er einen Sechsjährigen als Gladiator in die Arena schickte.
|269| Es war ein Tag wie jeder andere gewesen, dieser
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