Die Frau des Germanen
lebe.«
Wiete griff nach Thordis’ linker Hand, Thusnelda nach ihrer rechten. Für beide waren es unwillkürliche Gesten gewesen, aus
dem Bedürfnis entstanden, Thordis so viel Trost wie möglich zu geben. Was aber plötzlich daraus erwuchs, war viel mehr als
eine tröstliche Berührung. Aus diesem Zusammenfügen der Hände wurde ein Bündnis, das bis zu diesem Tag nur eine Verbindung
gewesen war, um die sich niemand bemüht hatte. Thordis hatte der Ehe ihres Ältesten, die ohne den Segen des Vaters zustande
gekommen war, von vornherein misstrauisch gegenübergestanden, und das böse Omen, das die Götter am Tag der Hochzeit über den
Ehebund gesenkt hatten, hatte sie blind gemacht für die Liebe des Paares. Die Kinderlosigkeit der beiden stand wie ein stummer
Vorwurf in Thordis’ Gesicht, wenn sie mit ihrer Schwiegertochter sprach. Jetzt schien er endlich daraus zu verschwinden.
Wiete hatte lange fest an der Seite ihrer Mutter gestanden, doch ihre Feindseligkeit war bereits gewichen, als ihr eigenes
Unglück nicht mehr den Sinn ihres Lebens ausmachte. Zwar hoffte sie immer noch darauf, dass ihr Gemahl am Leben war und eines
Tages vor der Teutoburg erscheinen würde, aber allmählich war die Fluchtburg für Wiete wieder ihr Zuhause geworden, ihr Heim,
in das sie gehörte und zu dem auch Thusnelda gehörte. Seit Thordis krank geworden war und sie sich die Pflege teilten, gingen
sie sich nicht mehr aus dem Wege, sondern verbrachten ihre Zeit gemeinsam, saßen gemeinsam an Thordis’ Bett, obwohl es vernünftiger
gewesen wäre, Kraft und Zeit zu teilen, damit Thordis nie allein sein musste. Wiete war zwar keine Freundin für Thusnelda
geworden und auch keine Schwester, dennoch war etwas zwischen ihnen entstanden, was das Leben auf der Teutoburg schöner machte.
Es gab Gespräche, fröhliche Plaudereien, Gelächter und nun auch die gemeinsame Sorge um Thordis.
|283| In diesem Moment, in dem der Zusammenhalt so deutlich war, so dicht, dass man sich daran festhalten konnte, hätte Thusnelda
gern die Stille zwischen ihnen genossen, aber Thordis’ Wunsch hatte Vorrang. Sie mussten reden, damit ihre Schwiegermutter
sich nicht einsam fühlte.
»Arminius will dieses Thing nutzen, um die anderen Stammesfürsten zu warnen«, begann sie. »Sie wiegen sich zu sehr in Sicherheit.
Sie glauben, Rom sei ein für allemal besiegt.«
»Ist es doch auch«, gab Wiete zurück. »Drei Legionen sind ausgelöscht! So viele Soldaten müssen sie erst mal wieder heranwachsen!«
»Rom ist ein riesiges Reich, darin leben unzählige Menschen.«
Wiete schien nun zu vergessen, dass Thordis zwar Gesellschaft, aber auch Ruhe brauchte. Ihre Stimme wurde laut und heftig.
»Denk an die Truppen, mit denen Tiberius über den Rhein vorgestoßen ist! Wahrscheinlich waren die Soldaten viel zu jung und
unerfahren. Arminius hat die Angriffe allesamt zurückgeschlagen.«
Auch Thusnelda vergaß ihre sterbende Schwiegermutter für Augenblicke. »Er fürchtet trotzdem, dass Rom keine Ruhe geben wird.
Er glaubt nicht, dass Rom keine Soldaten mehr besitzt. Tiberius’ Angriffe waren halbherzig …«
»… weil er Angst hatte, dass es ihm genauso ergeht wie Varus!«, warf Wiete ein.
»Ein römischer Kaiser hat keine Angst«, hielt Thusnelda dagegen. »Vergiss nicht: Tiberius wird bald den Thron besteigen. Augustus
ist sehr krank, und sein Stiefsohn wird sein Nachfolger. Wenn er erst Kaiser Tiberius ist, wird es noch schwerer wiegen, dass
seine Versuche, Rom zu rächen, allesamt fehlgeschlagen sind. Tiberius’ Hass wird gewaltig sein. Und der Hass eines Kaisers
ist etwas, was man fürchten muss.«
Wietes Blick wurde nun ängstlich. »Aber es wird Jahre dauern, bis er so weit ist«, begann sie erneut. »Die Verluste aus der
Varusschlacht …«
Thusnelda unterbrach ihre Schwägerin ungeduldig. »Glaub |284| mir, Wiete, Rom hat noch viele Legionen zur Verfügung, die gegen Germanien aufmarschieren können. Arminius hat mir erklärt,
dass Rom außerdem reichlich Nachschub an Soldaten, Pferden und Waffen aus seinen Provinzen bekommt.«
»Du meinst, sie könnten es wagen zurückzuschlagen?« Wiete schien es immer noch nicht glauben zu wollen.
»Fürs erste ist wohl nichts zu befürchten«, sagte Thusnelda. »Tiberius ist nach Rom zurückgekehrt, um zur Stelle zu sein,
wenn sein Stiefvater stirbt. Deswegen hat er sich zurückgezogen. Nicht, weil er aufgegeben hat. Aber sobald er zum Kaiser
gekrönt worden ist,
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