Die Frau des Praesidenten - Roman
warum es 1956 in Grady’s Tavern gebrannt hatte, und wenn er auch nicht richtig begriff, woher ich stammte, so wusste er doch, wer ich heute war – er wusste, wie ich mein Steak mochte, kannte die Farbe meiner Zahnbürste oder meinen Gesichtsausdruck, wenn mir bei einsetzendem Regen einfiel, dass ich meine Autoscheiben nicht hochgekurbelt hatte. Und wenn ich wirklich für Riley bestimmt gewesen war, wäre ich dann nicht dort geblieben? Ich war nicht wegen Charlie nach Madison gezogen – ich hatte diese Entscheidung vor mehr als zehn Jahren selbst getroffen und nur selten in Frage gestellt.
Was nun geschah, war die erste und einzige paranormale Begebenheit in unserer gesamten Ehe. Charlie bewegte sich im Schlaf, öffnete die Augen, sah mich an und sagte: »Du musst dir endlich vergeben, dass du diesen Jungen getötet hast.« (Er war der Erste, der je das Wort
töten
benutzt hatte – ich selbst hatte es in meinen Gedanken wieder und wieder verwendet, doch niemand hatte es je in meiner Gegenwart gebraucht. Jahre später würde es so in Artikeln und vor allem im Internet zu lesen sein, aber Charlie war der Erste.) »Um deinetwillen, aber auch um meinetwillen«, sagte er mit verschlafen kratziger Stimme, die trotzdem bestimmt und nachdrücklich klang. »Wenn du dir nicht vergibst, misst du dem Unfall zu viel Bedeutung bei, misst du
ihm
zu viel Bedeutung bei.« Charlie macht eine Pause. »Und ich will die Liebe deines Lebens sein.«
Ich war so verdutzt, dass ich mich an meine Antwort nicht erinnern kann – wahrscheinlich sagte ich nichts weiter als »Okay« –, und dann schliefen wir beide wieder ein, Charlie als Erster. Als wir über eine Stunde später wieder aufwachten, erwähntekeiner von uns den Vorfall, und wir plauderten einfach nur. Charlie versuchte, mich davon zu überzeugen, dass wir miteinander schlafen müssten – »Diese Ehe muss schnellstens vollzogen werden« –, aber ich wollte warten, bis wir am Nachmittag wieder zu Hause wären, da die Wände des Bed and Breakfast derart dünn waren, dass wir in der Nacht zuvor das Schnarchen des Besitzers gehört hatten. Wir gingen nach unten, aßen Brötchen mit Kirschmarmelade zum Frühstück, und die Verwirrung, die der Traum zurückgelassen hatte, diese innere Zerrissenheit und Traurigkeit, verschwand. Und jetzt, in wachem Zustand, angezogen und im Licht eines ganz normalen Tages, erkannte ich, dass der Traum vollkommen irrational gewesen war. Ich
liebte
Charlie; ich war sehr, sehr glücklich.
Doch der Traum kam wieder – er kam wieder und wieder und wieder. Ich schätze, ich habe im Laufe meiner Ehe alle zwei bis drei Wochen von Andrew Imhof geträumt, und fast jedes Mal erschien er mir so wie in dem Traum, den ich in meiner Hochzeitsnacht träumte: nah und trotzdem unerreichbar. Er steht ganz in der Nähe, wir sprechen nicht miteinander, und ich verspüre diese unbeschreibliche Sehnsucht. Wenn ich dann aufwache, schwindet der Traum, doch die Sehnsucht bleibt noch eine Weile.
Dennoch empfinde ich den Traum auch als eine Art Geschenk: Durch ihn kann ich an Andrew denken, ohne dabei von meinen Schuldgefühlen überwältigt zu werden. Möglicherweise bewirkten Charlies freisprechende Worte zusammen mit der Zeit, die vergangen war, etwas bei mir. Zum Zeitpunkt meiner Hochzeitsnacht lag der Unfall so viele Jahre zurück. Von dem Highschool-Mädchen, das ich in jener Septembernacht gewesen war, war kaum mehr etwas übrig, und da gewissermaßen nicht mehr ich es war, die Andrews Wagen gerammt hatte, konnte ich dem Mädchen, das es getan hatte, vergeben, so wie ich bereit gewesen wäre, einem Mitschüler zu vergeben, wenn er gefahren wäre.
Und so empfand ich unsere Trennung aufgrund dieses Traums zum ersten Mal nicht als den Verlust von Andrew, sondern als meinen eigenen. Nicht als
Es tut mir so unendlich leid,
was ich dir angetan habe
, sondern als
Komm zurück zu mir. Komm zurück zu mir, denn auch nach vierzehn Jahren vermisse ich dich noch immer schrecklich.
Im darauffolgenden Frühjahr, es war Anfang Mai, traf ich zufällig meine ehemalige Immobilienmaklerin Nadine Patora. Charlie war an diesem Samstagmorgen mit Hank unterwegs nach Kimberly zu den 4-H-Molkerei-Tagen, von wo aus sie ein Pflegeheim in Menasha und anschließend noch ein Lokal in Manitowoc besuchen wollten, und ich schaute auf dem Bauernmarkt gerade durch eine Kiste mit Äpfeln, als ich spürte, wie mich jemand anstarrte. Ich blickte auf. Mir direkt gegenüber, auf der anderen Seite
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