Die Frau des Praesidenten - Roman
oder wirkten hinter ihrer fröhlichen Fassade ausgelaugt, aber er war noch genauso gutaussehend wie an dem Tag, da ich ihn geheiratet hatte. Sein Aussehen hatte sich tatsächlich kaum verändert.
Gegen halb zehn tauchten, sehr zu Ellas Freude, unser Neffe Harry und unsere Nichte Liza auf. Harry trug das Bierjackett des jüngsten Abschlussjahrgangs, und sie waren beide in festlicher Stimmung und, wie mir schien, etwas betrunken, Harry noch mehr als Liza. Liza und Charlie tanzten, und neben ihnen Harry und Ella, und dann tanzte Harry mit mir – er stand seinem Onkel in nichts nach (ich nahm mir vor, Ed und Ginger zu berichten, dass es sich ausgezahlt hatte, ihn zum Tanzunterricht zu zwingen), und er flirtete dabei mit mir auf jene unverbindliche, einnehmende Art, die reichen, gutaussehenden, selbstbewussten Zweiundzwanzigjährigen manchmal eigen ist. Den Sommer wollte er in Alaska verbringen und dort die meiste Zeit auf einer Fischfarm arbeiten (auch das hatte ich vor meiner Bekanntschaft mit den Blackwells nicht gekannt, diese Neigung, weite Reisen auf sich zu nehmen und viel Geld auszugeben, um einer anstrengenden und manchmal schmutzigen Arbeit nachgehen und später spannende Anekdoten darüber erzählen zu können – mein Neffe Tommy, Harrys Bruder, hatte während der Highschool einen Sommer über in einem Projekt mitgearbeitet, das in Griechenland Straßen baute; Liza hatte in Honduras Waisenkinder betreut, und mehrere Familienmitglieder hatten mit Outward Bound oder NOLS Ausflüge in die Wildnis unternommen). Danach sollte Harry von seinen beiden Brüdern und Ed abgeholt werden, und zu viert wollten sie einen zweiwöchigen organisierten Angeltripp nach Nordalaska unternehmen. Nach seiner Rückkehr erwarteteihn seine neue Stelle als Marktforscher bei Merill Lynch in Manhattan. Unter diesen Umständen war es nur natürlich, dass mein Neffe sich die Welt als einen rundum angenehmen, einladenden Ort vorstellte, und natürlich war er so kurz vor seinem Studienabschluss in Princeton betrunken und glücklich.
Nachdem Harry und Liza weitergezogen waren, stellte ich bei einem Blick auf meine Uhr überrascht fest, dass es schon nach elf war. Ich suchte das Zelt nach Ella ab – sie tanzte gerade mit einem Jungen in ihrem Alter ungefähr das, was Neunjährige sich unter einem Tango vorstellen – und sagte dann Charlie Bescheid, dass ich mit ihr in das Wohnhaus hinübergehen wollte, um sie ins Bett zu bringen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil es schon so spät war, versuchte mich aber damit zu trösten, dass es wegen des Zeitunterschieds in Wisconsin eine Stunde früher gewesen wäre.
»Komm wieder runter, wenn du sie hingelegt hast.« Charlie musste fast schreien, um die Musik zu übertönen. »Das ist kein Problem, das weißt du doch hoffentlich?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich will sie lieber nicht allein lassen, aber bleib du hier und mach dir noch einen schönen Abend.« Das hätte er sicher auch ohne meine Ermutigung getan, aber ich wollte zur Abwechslung einmal großzügig sein und ihm für sein Vergnügen meinen Segen geben. Ich hatte mitbekommen, wie einige der Männer darüber berieten, zu den Eating Clubs hinüberzugehen – einem von ihnen namens Cottage hatte Charlie angehört –, und auf diesen Programmpunkt legte ich ohnehin nicht viel Wert. Mir waren die Eating Clubs immer wie besonders prätentiöse Studentenverbindungen vorgekommen (sie waren in mehreren Villen entlang der Prospect Avenue angesiedelt und dienten hauptsächlich dazu, dass die Studenten der höheren Jahrgangsstufen dort ihre Mahlzeiten einnehmen und Partys feiern konnten. Um ihnen beizutreten, musste man einen Auswahlprozess durchlaufen, der sich von dem der üblichen Verbindungen kaum unterschied), aber die Eingeweihten verteidigten diese Institution so leidenschaftlich, dass etwas dran sein musste, das mir entging.Charlie war eine Zeitlang der Vorsitzende des Auswahlausschusses im Cottage gewesen, und nach all den Jahren war die einzige Rechnung, die ihm wirklich wichtig war – er vergaß nie, nachzufragen, ob ich sie bezahlt hätte –, die über den Jahresbeitrag dieses Clubs, zu der Zeit genau fünfundachtzig Dollar. 1986 hatte Cottage zum ersten Mal Frauen zugelassen, nachdem eine Studentin den Club verklagt hatte, und auch wenn sich Charlie verächtlich über ihren »hysterischen Feminismus« geäußert hatte, schien er weiter kein Problem damit zu haben, dass der Club seither für Studenten beiderlei Geschlechts
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