Die Frau des Praesidenten - Roman
die Zeitungen von mir weg hält. Er sagt: »Du darfst sie nur lesen, wenn du mir keine Vorträge über Mr. Sympathy hältst.«
»Mr. Sympathy« ist Charlies Spitzname für Edgar Franklin, einen pensionierten Colonel der US Army, dessen Sohn vor zwei Jahren als Einundzwanzigjähriger von einem selbstgebastelten Sprengsatz getötet worden ist. Seit heute hat Colonel Franklin eine Nacht in einem Zelt in The Ellipse verbracht, dem Park südlich des Weißen Hauses und nördlich des Washington Monument, und vier weitere Nächte in demselben Zelt auf einem Rasenstück von zwanzig Quadratmetern auf der Fourth Street SE, kurz hinter dem Capitol und etwa fünf Kilometer vom Weißen Haus entfernt. Auch tagsüber hat er dort ausgeharrt, in der Hoffnung, Charlie sprechen zu können. Wir schreiben die erste Juniwoche, gestern waren es über 35 Grad, und die Luft ist stickig von der sumpfigen Feuchtigkeit dieser Stadt. Ich würde wetten, dass es selbst um diese Uhrzeit draußen über 25 Grad warm ist.
Ich strecke die Arme nach den Zeitungen aus, und Charlieschüttelt den Kopf. »Ich habe noch kein Versprechen gehört.«
»Gibt es irgendwelche Neuigkeiten von ihm?«
Er verzieht angewidert das Gesicht. »Den haben doch die Demokraten gekauft. Ich garantiere dir, dass irgendein linker Spinner ihn finanziert.«
»Ich glaube nicht, dass er Geld bekommt«, sage ich.
»Versprich es mir – keine Plädoyers.«
»Ich verspreche es«, sage ich, und Charlie wirft die Zeitungen auf die Bettdecke, wo sie mit einem dumpfen Aufprall landen. Er geht zurück ins Badezimmer und ruft mir über die Schulter zu: »Lies auch den Wirtschaftsteil, ich habe nämlich gehört, dass General Electric und Alitalia fusionieren wollen.«
»Sehr witzig.« Diesen Spruch habe ich schon so oft zu hören bekommen, dass er die Pointe –
und sie wollen sich Genitalia nennen
– gar nicht mehr dazusagen muss. Ein anderer Witz, den Charlie gern anbringt, wenn er mir die Zeitungen überreicht, hat mit der Börse zu tun:
Hast du schon gelesen, dass man sein Geld neuerdings in Spirituosen anlegen soll? Da kriegt man bis zu vierzig Prozent!
Üblicherweise überfliege ich in jeder der Zeitungen zuerst die Titelseite, dann die Leitartikel und die Kommentare, und wenn es keine besonders alarmierenden Nachrichten gibt, lese ich den Kulturteil der
Times
ganz durch. Heute stehen auf der Titelseite der
Times
Artikel über einen Hubschrauberabsturz, dem gestern sechs Marines zum Opfer gefallen sind, über Ingrid Sanchez, Charlies Kandidatin für den Supreme Court, und die Termine mit verschiedenen Senatoren, die sie für den heutigen Nachmittag in Vorbereitung auf ihre Anhörung im Senat wahrnehmen wird, über den Kongressbeschluss zu der neuen Energieverordnung, über die Schäden, die eine Flut in South Dakota angerichtet hat, über Edgar Franklin und schließlich, immer noch auf der Titelseite, ein Beitrag über ein neues Verfahren der ästhetischen Chirurgie, das sich wachsender Beliebtheit erfreut, die Labienkorrektur. Zumindest in der
Times
gehe ich nach dem Kulturteil auch die politischen Nachrichten vollständig durch. In der
Post
lese ich nur die Artikelganz, die von Charlies Regierung handeln, und die Rubrik »Style« – inklusive, wie ich zugeben muss, der Kolumne »The Reliable Source«.
Charlie und ich übernachten, wenn man es genau nimmt, im Präsidentenschlafzimmer. Viele Präsidentenehepaare haben in getrennten Zimmern geschlafen, und das für die First Lady vorgesehene Schlafzimmer nebenan ist etwas größer als dieses. Dazu gehören ein separates Wohnzimmer und ein eigenes Badezimmer, das ich auch nutze. (In dem Wohnzimmer bewahre ich meinen Freundlichen Baum aus Pappmaché und die Nofretete-Büste auf, die ich von meiner Großmutter geerbt habe und die Charlie für unser gemeinsam genutztes Zimmer zu unheimlich findet.) Während ich lese, duscht er, rasiert sich und putzt sich die Zähne, und aus der Stereoanlage in einer Wandnische im Badezimmer erklingt Mozart. Obwohl Charlie Barock nicht von Romantik unterscheiden kann und sich wenig dafür interessiert, wer was komponiert hat, hat er in seiner Amtszeit als Gouverneur, als wir häufiger Konzerte im Oscar Mayer Theatre in Madison besuchten, eine Vorliebe für klassische Musik entwickelt. Ich betrachte dieses späte musikalische Erwachen mit gemischten Gefühlen – ich freue mich, dass er Freude daran findet, kann aber auch nicht umhin, zu vermuten, dass diese Freude eng mit seinem hektischen
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