Die Frau des Praesidenten - Roman
verunsichernd sein, aber die verschiedenen Varianten neutralisieren sich gegenseitig. Was immer ich im Positiven erreicht habe, war nie genug.Entscheidend ist immer, was ich übersehen oder ignoriert habe.
Meine »großen Themen« sind: Brustkrebs-Aufklärung und -Vorsorge; historische Restauration von Kunstwerken und Gebäuden; AIDS-Prävention bei Kindern im In- und Ausland, besonders in Afrika, und Alphabetisierung. Sie mögen wenig kontrovers sein, aber ich halte sie alle für ehrenwerte Anliegen. Trotzdem gehört es zu meinen schmerzhaftesten Erfahrungen als First Lady, dass sich die wohlbekannten Pflicht- und Schuldgefühle und die Trauer, die mich in Milwaukee manchmal bei der Zeitungslektüre überkamen, vervielfacht haben. Ich glaube zwar nicht wie Gladys Wycomb, Thea Dengler und viele andere, dass es meine Aufgabe sei, meinen Ehemann zu beeinflussen, aber wenn ich jetzt einer Organisation einen Besuch abstatte oder ihre Mitglieder ins Weiße Haus einlade – eine Tierklinik, die Gratissterilisationen an Haustieren vornimmt, deren Besitzer es sich nicht leisten können, ein Projekt gegen Jugendgewalt, ein Waisenhaus in Addis Abeba –, dann bekommt diese Organisation schlagartig mehr Spendengelder und sehr viel öffentliche Aufmerksamkeit. Ich
kann
das Leben vieler Menschen verändern, und ich habe mir schon oft, obwohl das feige ist, gewünscht, ich hätte diese Möglichkeit nicht. Der Druck, der dadurch auf mir lastet, ist zu groß, und das Schlimmste daran ist nicht, dass ich in anderer Leute Augen nicht genug leiste, sondern dass ich selbst dieser Meinung bin. Ich arbeite viel, reise viel und bemühe mich immer, mit meinen Besuchen – mit meinen Taten eher als mit Worten – Menschen zu unterstützen, die Gutes tun, aber ich bin fest überzeugt, dass ich mit meinen Bemühungen zufriedener wäre, wenn ich bescheidenere Mittel dazu hätte. Wenn ich die alleinstehende Lehrerin geblieben wäre, die ich war, könnte ich mir vorstellen, dass ich vielleicht mit ungefähr vierzig Jahren begonnen hätte, Pflegekinder bei mir aufzunehmen, und nicht nur weiße; ich hätte meine Abfälle kompostiert und mir irgendwann ein Hybridauto zugelegt, wenn ich auch vielleicht keinen Antikriegsaufkleber an die Stoßstange geklebt hätte. Egal, wie man diese Dinge zu messen versucht, ich hätte wahrscheinlichweniger erreicht, als ich es jetzt tue, aber ich hätte nicht immer vor Augen gehabt, wie viel mehr mir möglich gewesen wäre.
Was diejenigen angeht, die mich hassen, weil sie Charlie hassen, die mich stellvertretend für ihn verachten, frage ich mich: Wann genau hätte ich ihrer Meinung nach etwas tun sollen, und was? Hätte ich ihn nicht heiraten sollen? Hätte ich ihn nicht davon abhalten sollen zu trinken? Als er beschloss, sich als Gouverneur zur Wahl zu stellen, und ich ihm sagte, dass ich es vorziehen würde, wenn er das nicht tat (wobei ich in meiner Naivität dachte, das sei immer noch besser als Kongressabgeordneter, weil wir zumindest in Wisconsin bleiben würden) – als er dann trotz meiner Einwände tatsächlich kandidierte, hätte ich ihn da verlassen sollen? Hätte ich bei ihm bleiben, ihn aber im Wahlkampf nicht unterstützen sollen? Hätte ich es jedes Mal öffentlich sagen sollen, wenn meine Ansichten nicht mit seinen übereinstimmten? Hätte ich ihn verlassen sollen, als er, wieder entgegen meinem ausdrücklichen Wunsch, als Präsidentschaftskandidat antrat? Jeder, der schon einmal verheiratet gewesen ist, und insbesondere jeder, der schon seit mehreren Jahrzehnten eine Ehe führt, weiß, dass das Zusammenleben aus einer einzigen Abfolge von Kompromissen besteht. Aus der Entfernung ist es offenbar einfach, sich über die Kompromisse, die ich eingegangen bin, ein Urteil zu bilden.
Wenn ich zögerlich bin, liegt das zum Teil daran, dass ich nicht gern übereilte Entscheidungen treffe. Im Vorfeld des Krieges wusste ich ehrlich nicht, welcher Weg der richtige war. Ich las Zeitungsartikel zu beiden Seiten und fand in jedem einzelnen überzeugende Argumente. Weil so viel auf dem Spiel stand, war ich in den ersten Monaten des Jahres 2003 tatsächlich sehr angespannt, aber Charlie und ich sprachen weniger über die politische Situation, als man vielleicht annehmen würde – oder wir sprachen jedenfalls eher über logistische Aspekte, als dass wir die philosophischen oder historischen Implikationen diskutiert hätten. Er rief zum Beispiel aus dem Oval Office an und sagte: »Ich habe gleich noch eine
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