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Die Frau des Praesidenten - Roman

Die Frau des Praesidenten - Roman

Titel: Die Frau des Praesidenten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Curtis Sittenfeld
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angeekelt, nur manchmal, wenn ich mich nicht bewegte, zog es vorüber. Doch immer öfter erbrach ich mich im Bad über der Toilette und versuchte, dabei nicht in Tränen auszubrechen.
    Abends lag ich mit geschlossenen Augen und angeschaltetem Licht im Bett, hörte »Lonesome Town« und spürte, wie mich das Lied zur Ruhe brachte, mich wiegte und in einen Zustand versetzte, der dem schwerelosen Treiben im Wasser glich. »You can buy a dream or two / To last you all through the years«, sang Ricky Nelson. »And the only price you pay / Is a heart full of tears.« Ich spielte mit der silbernen Halskette, die ich an jenem Nachmittag vor der Bücherei getragen hatte. Ein Teil von mir wünschte dann, ich hätte den Herzanhänger nicht Andrews Eltern geschenkt, und diese Tatsache nahm ich als Zeichen, dass ich das Richtige getan hatte.
     
    Eines Morgens Anfang November – es war noch nicht einmal sechs Uhr – stand beim Verlassen des Bads, das ich erneut wegen der Übelkeit hatte aufsuchen müssen, plötzlich meine Großmutter im unbeleuchteten Flur vor mir. Wie ein Gespenst sah sie mich in ihrem rosa Satinbademantel und weißen Pantoffeln an und fragte: »Hast du dich gerade übergeben?«
    »Alles in Ordnung«, sagte ich leise. »Ich hatte Bauchschmerzen, aber es geht wieder.«
    Prüfend betrachtete sie mich. »Das ist der falsche Weg, um schlank zu bleiben. Viele Mädchen versuchen es mit Hilfe dieses alten Tricks, aber es ist schlecht für die Zähne und lässtdeine Wangen anschwellen. Es dauert nicht lange, und du siehst aus wie ein Streifenhörnchen.«
    »Granny, ich habe mich nicht absichtlich übergeben.«
    »Wenn du dir Sorgen über dein Gewicht machst, wäre es wesentlich damenhafter zu rauchen. Zigaretten zügeln den Appetit und verbrennen gleichzeitig Kalorien.«
    Ich wusste, dass Rauchen schädlich war – Mr. Frisch hatte es uns in Biologie erklärt –, aber ich wollte nicht mit ihr diskutieren.
    Sie streckte die Hand aus und umfasste mein Kinn mit Daumen und Zeigefinger, so dass ich sie ansehen musste. Seit der achten Klasse war ich bereits größer als sie, doch normalerweise trug sie Absätze, die den Größenunterschied ausglichen. Jetzt aber sah ich auf sie hinab. »Bestrafe dich nicht selbst«, sagte sie. »Dadurch machst du’s nicht besser.«
     
    Wenn ich in der Schule war, inmitten der lärmenden Menschen, die von einer unbedeutenden Verpflichtung zur nächsten eilten, fragte ich mich oft, ob ich nicht besser die Schule komplett abbrechen und zu Hause bleiben sollte. Aber dort war es, wenn auch auf andere Art, genauso schlimm. Nach und nach kam ich zu der Erkenntnis, dass ich Riley verlassen musste und nie mehr zurückkehren durfte. Doch das Ersine Teachers College in Milwaukee kam nicht länger in Frage. Mit den insgesamt weniger als zwölfhundert Mädchen, die dort hingingen, war es zu klein und somit zu wahrscheinlich, dass meine Geschichte herauskommen würde. Irgendjemand dort würde irgendjemanden aus Riley kennen, oder eine meiner Mitschülerinnen aus der Highschool würde sich ebenfalls dort einschreiben. Anzunehmen, dass eine Bewerbung an der University of Wisconsin in Madison ein radikaler Schritt wäre, kann wohl als Zeichen meiner damaligen provinziellen Sicht gelten. Zwanzigtausend Studenten, so dachte ich, müssten genug sein, um unterzutauchen.
     
    Als meine Großmutter das zweite Mal mitbekam, dass ich mich übergeben musste, wartete sie nicht im Flur auf mich; siesaß auf meinem Bett und blätterte durch
Die große Versuchung
, die auf meinem Nachttisch gelegen hatte. Da es früh am Morgen war, klang ihre Stimme kratzig, als sie sagte: »Schließ die Tür.« Ich folgte ihrer Aufforderung, und sie fuhr fort: »Das war neulich ziemlich dumm von mir, was? Zu denken, du würdest versuchen abzunehmen.«
    Ich stand an der Kommode und gab keine Antwort.
    »Wir werden nach Chicago fahren und die Sache in Ordnung bringen. Nächste Woche wahrscheinlich. Ich muss ein paar Anrufe erledigen. Du kannst natürlich selbst entscheiden, aber ich würde dir raten, deinen Eltern nichts davon zu erzählen, denn ich wüsste nicht, welchem Zweck das dienen würde.«
    Ich spürte den Impuls, so zu tun, als verstünde ich nicht, wovon sie sprach, doch ich verstand sehr gut. Nachts, wenn ich »Lonesome Town« hörte, wusste ich es. Sie hatte recht.
    »Ist das nicht …«, ich zögerte, »ist das nicht illegal?«
    »Gewiss, und trotzdem geschieht es ständig. Die menschliche Natur lässt sich nicht in

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