Die Frau des Praesidenten - Roman
saß nun auf dem Boden, stellte die Knie wie ein Zelt vor mir auf, verschränkte die Arme, verbarg mein Gesicht darin und begann derart zu schluchzen, dass meine Schultern bebten.
»Was hast du denn?«
Als ich aufblickte, stand er über mir. Vor einer Minute noch hatte er gesessen und ich gekniet, und während ich noch tiefer gesunken war, hatte er sich erhoben. Unsere Blicke trafen sich, ich spürte, wie sich meine Gesichtsmuskeln anspannten (mit Andrew wäre es so anders gewesen; ich hätte versucht, ihn glücklich zu machen, und danach hätte er mich im Arm gehalten und geküsst). Dann sagte ich: »Ich weiß, es gibt nichts, womit ich es wiedergutmachen könnte, aber ich vermisse ihn auch.«
»Du glaubst doch nicht etwa, dass ihr zwei ineinander verliebt wart? Dass er dein Freund war?« Petes Stimme klang wütend.
Ich antwortete nicht, aber ich hatte aufgehört zu weinen, und mein Körper war in Alarmbereitschaft. Plötzlich erkannte ich, dass ich dieses Haus in Kürze verlassen und wahrscheinlich niemals zurückkehren würde.
»Mein Bruder war nicht dein Freund«, sagte Pete.
Ich fuhr mir mit dem Handrücken über die Augen, strich mir die Haare aus dem Gesicht. Beim Aufstehen hielt ich mich an einem Stuhl fest.
»Hast du mich verstanden?«, fragte Pete. »Er war nicht dein Freund.« Während ich meinen Mantel anzog, kam mir der Gedanke, dass er versuchen könnte, mich am Gehen zu hindern. »Was du eben getan hast«, sagte er, »machen nur Huren, und mit einer Hure wäre mein Bruder niemals zusammen gewesen.«
Ich verließ die Küche, ging am Wohnzimmer und der Vordertreppe vorbei durch den Flur. Pete folgte mir, doch als ich die Tür erreichte, war er über drei Meter von mir entfernt. Ichgriff nach dem Türknauf, drehte ihn, und er sagte: »Siehst du, du verteidigst dich noch nicht mal. So eine Hure bist du.«
Die Plötzlichkeit, mit der diese Bosheit zwischen uns aufgetaucht war, konnte nur bedeuten, dass sie schon die ganze Zeit da gewesen war. Ich drehte mich zu ihm um und sagte das Einzige, von dem ich wusste, dass es wahr war: »Es tut mir leid, dass es nicht mich statt ihn getroffen hat.«
Von da an lebte ich in einer Art Dämmerzustand, bestimmt nur von dem einen Gedanken, vorwärtszukommen. Ich erkannte, dass ich mit Hilfe von Pete versucht hatte, die Sache wiedergutzumachen, aber nun begriff ich, dass die Sache nicht wiedergutzumachen war. In Wirklichkeit war alles nur noch schlimmer geworden. Ich fand keinen Trost in der Vorstellung von mir in der Märtyrerrolle. Es hatte mir größtenteils gefallen, von Pete angefasst zu werden, das Körperliche hatte mir gefallen (von einem nackten, behaarten, fünf Jahre älteren Mann in einer Weise genommen zu werden, wie er es nicht hätte versuchen und ich nicht hätte erlauben sollen – gewiss, das war aufregend gewesen), und mir hatte es gefallen, über etwas nachdenken zu können, das mit Andrew zu tun hatte, aber seinen Tod ausklammerte. Doch am Ende war da nur Hass gewesen, Hass zur Krönung der Tragödie, dazu weitere belastende Geheimnisse und ein Verhalten, das die Menschen in meinem Umfeld zusätzlich verletzen würde, wenn sie davon erführen. Die Lösung war, mich zurückzuziehen, mich zu verschließen, und dafür musste ich mich noch nicht einmal anstrengen. Die Lösung war vielmehr das Gegenteil von Anstrengung: Kapitulation.
Ich ging zur Schule und erledigte weiter meine Aufgaben, das meiste während der Freiarbeitszeit; ab der zehnten Klasse war die Freiarbeitszeit keine Pflicht mehr, und früher hatte ich sie zusammen mit Dena in der Turnhalle auf der Tribüne verbracht, wo wir regelmäßig vor den Basketbällen der Jungs in Deckung gehen mussten. Abends sah ich gerade oft genug mit meiner Familie fern oder spielte Karten mit ihnen, um keinen Verdacht zu erregen, und beim Essen redete ich genug, umihnen die Angst zu nehmen, ich stünde kurz davor, etwas Unüberlegtes und Zerstörerisches zu tun, denn das hatte ich nicht vor. Dafür fehlte mir schlicht die Energie.
Ich versuchte zu lesen, Romane waren einst meine verlässlichste Zufluchtsstätte gewesen, doch selbst wenn ich in das Schottland des sechzehnten Jahrhunderts oder das heutige Manhattan eingetaucht war, spürte ich am Ende jeder Seite das Grauen vor meinem eigenen Leben. Manchmal ergoss sich das Grauen einfach über mich, und ich konnte nichts tun, um es zu verhindern. Am schlimmsten war es morgens nach dem Aufwachen. Dann war mir schlecht, ich war buchstäblich
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