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Die Frau des Praesidenten - Roman

Die Frau des Praesidenten - Roman

Titel: Die Frau des Praesidenten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Curtis Sittenfeld
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Freundin meiner Großmutter zu hören, doch inzwischen war so viel Undenkbares, Unerträgliches geschehen, und darüber hinaus wurden die einzelnen Worte von der eigentlichen Bedeutung ihrer Erklärungen überschattet.
    »Es wird nicht noch einmal passieren«, sagte ich. »Ich bin nicht …«
Ich bin wirklich noch das Mädchen, das ich vergangenen Winter war
, wollte ich sagen, doch zweifellos würde die Notwendigkeit einer solchen Behauptung deren Glaubhaftigkeit untergraben.
    »Das hier ist ein Gespräch über Verhütung, nicht über Moral«, sagte Dr. Wycomb. »Hat man erst einmal Geschlechtsverkehr gehabt, ist die Wahrscheinlichkeit, sexuell aktiv zu bleiben, hoch.« Sie tätschelte meinen Unterarm. »Das mit demAutounfall tut mir sehr leid«, sagte sie noch, dann rief sie nach der Schwester.
     
    Als ich aus der Narkose erwachte, lag ich in einem anderen Raum – ich öffnete die Augen, schloss sie, öffnete sie wieder – und sah meine Großmutter neben mir sitzen mit einem Buch in der Hand. Ich blinzelte ein paarmal, alles war verschwommen. »Soll ich Dr. Wycomb eine Dankeskarte schreiben?«, fragte ich.
    »Ich glaube, das wird nicht nötig sein.« Sie legte ein Lesezeichen zwischen die Seiten und klappte das Buch zu. »Sie kommt gleich noch einmal vorbei, um nach dir zu schauen, falls du ihr persönlich danken möchtest. Wie fühlst du dich?«
    »Wie spät ist es?«
    »Nach zwei. Du hast fast eine Stunde geschlafen.«
    »Wird Mom nicht … Wartet sie nicht auf mich?«
    »Ich habe ihr gesagt, ich würde dich nach der Schule treffen und mit zum Einkaufen nehmen. Alice, wenn du es ihnen erzählen möchtest … Es ist allein deine Entscheidung.«
    »Ich werde es ihnen niemals erzählen«, sagte ich, was sich als richtig erweisen sollte.
    Als Dr. Wycomb in den Aufwachraum kam, war ich noch immer benommen. »Das ist ein sehr häufiger Eingriff, Alice«, sagte sie. »Du warst diese Woche schon meine dritte Patientin.«
     
    Zurück in Riley schaffte ich es kaum, meine Eltern auch nur anzusehen.
Was auch immer du bist, sei gut darin
, mit diesen Worten meines Vaters war ich großgeworden, und wie hatte ich ihn enttäuscht, wie hatte ich sie alle enttäuscht. An den Wochenenden, wenn Mrs. Falke zum Bridgespielen zu uns herüberkam, stand ich oft im ersten Stock im Flur, hörte zu, wie sie die Karten auf den Tisch klatschten, und sie kamen mir vor wie Kinder.
    Ich blutete einige Tage, dann hörte es auf. Nicht einmal Schmerzen hatte ich, zumindest keine richtigen. Wenn ein Bild von Andrew oder Pete vor mir auftauchte oder ein Gefühl inmir hochkam, versuchte ich, alles zu unterdrücken. Ich wartete, dass die Zeit verging.
    Dann war Freitag, der 22. November. Ich hatte gerade zu Mittag gegessen und lief hinter ein paar anderen Schülern aus der Cafeteria, als eine Zehntklässlerin namens Joan Skryba und eine Elftklässlerin namens Millie Devon schluchzend auf uns zugestürmt kamen. Sie schrien, jedoch derart zusammenhanglos, dass ich zunächst nicht verstand, was geschehen war, und als ich es dann tat, war ich nicht sicher, ob ich es richtig verstanden hatte, denn es schien unmöglich – der Präsident der Vereinigten Staaten? Präsident Kennedy? Dann tauchte ein Junge hinter uns auf, der das Gleiche sagte, und plötzlich redeten alle durcheinander. Erst als ich Mrs. Moore, meine Mathelehrerin, in aller Öffentlichkeit weinen sah, begriff ich, dass es wahr sein musste: Vor etwas mehr als einer Stunde war in Dallas auf Präsident Kennedy geschossen worden.
    Alles schien außer Kraft gesetzt; in den restlichen Schulstunden wurde über nichts anderes gesprochen, doch inzwischen war die allgemeine Erregung in Betäubung umgeschlagen. Dann, etwa eine Stunde später, erfuhren wir, dass er gestorben war. Wenn man Präsident Kennedy gerade ermordet hatte, was würde dann als Nächstes passieren? Welchen Sinn, welche Logik hatte das, welche Regeln galten überhaupt noch in dieser Welt? Normalerweise waren die Flure, in denen unsere Spinde standen, am Ende des Schultages, ganz besonders freitags, erfüllt von Lachen, Schreien und dem Lärm der Spindtüren, doch an diesem Nachmittag war alles still.
    Ich weinte nicht um ihn, nicht damals und auch später nicht, doch wie jeder andere auch verfolgte ich gebannt die Berichterstattung im Fernsehen. Zum ersten und einzigen Mal, soweit ich mich erinnern kann, sahen wir an diesem Abend während des Abendessens fern; unsere Teller nahmen wir mit ins Wohnzimmer. Sportveranstaltungen,

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