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Die Frau des Praesidenten - Roman

Die Frau des Praesidenten - Roman

Titel: Die Frau des Praesidenten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Curtis Sittenfeld
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östlicher Richtung die Commerce Street entlanglief, fühlte sich der Verrat, den ich an ihr beging, umso schändlicher an, da kein Charlie hier war, um mich abzulenken. Ich musste mit ihr reden. Nein, zuerst musste ich herausfinden, wie das mit Charlie weiterging, ob es nur ein kleinerFlirt gewesen war oder ob wir uns wiedersehen würden, dann musste ich darüber nachdenken, was ich Dena sagen würde,
dann
musste ich mit ihr reden.
    Ich kam an Jurec Brothers’ Metzgerei vorbei, an Grady’s Tavern und Stromond’s Bäckerei, in der man bis zum Alter von zwölf Jahren einen Keks in Form eines Hundeknochens geschenkt bekam. Dort, wo früher das Stoffgeschäft gewesen war, war jetzt ein chinesisches Restaurant – ein chinesisches Restaurant in Riley! –, und ich hatte gehört, dass Ruth Hofstetter, die hübsche Verkäuferin aus dem Stoffgeschäft, die mit Ende zwanzig noch immer alleinstehend gewesen war, später das Geschäft übernommen hatte, bevor sie dann alles verkauft und einen verwitweten Farmer aus Houghton geheiratet hatte. Ruth musste jetzt Anfang vierzig sein, dachte ich, wobei mir unser Altersunterschied nun deutlich geringer vorkam als zu der Zeit, in der ich noch zur Highschool ging und sie sieben- oder achtundzwanzig gewesen war. Vor kurzem war mir der Gedanke gekommen, dass auch ich vielleicht einen vierzig- oder gar fünfzigjährigen Mann heiraten würde, wie Ruth es vermutlich getan hatte, jedenfalls, wenn eine Hochzeit nicht in absehbarer Zeit stattfände. Dieser Gedanke schien mir weniger anstößig als vielmehr kaum vorstellbar. Wie konnte man, wenn es die erste Hochzeit war, einen alten Mann heiraten? Wie konnte man sich das Mädchenhafte bewahren, die Vorstellung von einem Satinkleid und weißen Lilien, und sich zugleich einem Mann mit fleischigen Händen, Altersflecken und dünner werdendem grauem Haar hingeben? Dena hatte Dick Cimino geheiratet, als dieser achtundvierzig gewesen war, doch in ihrem Fall war es genau darum gegangen, sich einen alten Knacker zu suchen, um sich dann von ihm mit Geschenken und Aufmerksamkeit überhäufen zu lassen.
    Die Antwort darauf, wie Ruth es gemacht hatte, war vermutlich, dass auch sie älter gewesen war; wenn man einen älteren Mann heiratete, war man
selbst
älter und sah älter aus. Man unterschied sich nicht allzu sehr von ihm. Oder umgekehrt, er hatte sich ein jüngeres Ich bewahrt und trug seine schlaffe, faltige Haut wie ein Kostüm.
    Ich überquerte die Kreuzung Commerce Street/Colway Avenue und stellte eine Veränderung in der Umgebung fest. Die Gegend war nicht heruntergekommen, in Riley gab es keine wirklich heruntergekommene Gegend, doch an vielen Häusern blätterte die Farbe ab, und auf den Veranden standen ausgediente Wohnzimmermöbel.
    Ich bog in die Parade Street ein und kontrollierte die Hausnummern. Unter der angegebenen Adresse fand ich ein zweistöckiges Gebäude, das mit grauem Kunststoff verkleidet war; es war offenbar von vornherein für mehrere separate Wohnungen angelegt worden, nicht als Einfamilienhaus. Mein Herz raste, als ich auf die Eingangstür zuging. Sie war nicht verschlossen, und ich trat in einen grauen, mit blauem Linoleum ausgelegten Flur, von dem eine Holztreppe mit durchsichtigem Plastikläufer nach oben führte. Es roch nach abgestandenem Zigarettenrauch. Ich fand seine Tür im Erdgeschoss links, und kurz bevor ich klingelte, kam mir der Gedanke, dass er womöglich doch zu Hause sein könnte, da jemand, der in einem so schäbigen Haus wohnte, vermutlich keine Arbeit hatte, was mir im gleichen Moment überheblich vorkam und sicher nicht stimmte, und dann öffnete er die Tür.
    Er schien überrascht, aber auch amüsiert, mich dort stehen zu sehen. »Alice Lindgren«, sagte er. »Lange nicht gesehen.«
    Ich war nervös und wütend zugleich, doch meine Wut gewann die Oberhand. »Wie konntest du nur?«, entfuhr es mir.
    Er lächelte mich tatsächlich an, was mich nur noch rasender machte. Er trug ein weißes ärmelloses Hemd, eine abgeschnittene Jeans und Flip-Flops, hatte sich einen dunklen, dichten Bart wachsen lassen und etwa zwanzig Kilo zugenommen, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. (Zu meiner College-Zeit hatte ich ihn einmal während eines Besuchs in Riley im Tatty’s am Tresen sitzen sehen. Er hatte mit dem Rücken zu mir und Betty Bridges gesessen, und während der halben Stunde, bis er das Restaurant verlassen hatte, war ich kaum in der Lage gewesen zu sprechen oder mich zu bewegen. Bis auf dieses

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