Die Frau des Praesidenten - Roman
den Jahren zwischen Gladys Wycomb und meiner Großmutter beobachtet hatte, ein Liebesspiel vorausgegangen war. Damals hatte ich es nicht erkannt; der Anblick ihrer Umarmung allein hatte gereicht – war zu viel gewesen – und hatte die Frage, ob es sich dabei um ein Vor- oder ein Nachspiel gehandelt hatte, gar nicht aufkommen lassen. Doch im Rückblick lässt es sich nicht leugnen: Da war diese ruhige, zärtliche, erschöpfte Stimmung, die zwei Menschen umfängt, wenn sie nicht mehr auf den Akt zusteuern, sondern ihn schon hinter sich haben, diese Phase der Entspannung und Zufriedenheit. Mit den Jahren stelle ich für mich fest, dass es genau diese Phase ist, die mir am besten gefällt – eine Behauptung, die ich in den ersten Wochen mit Charlie sicherlich nicht aufgestellt hätte. Die keineswegs immer unproblematische Verständigung über den Liebesakt ist dann einer angenehmen Leichtigkeit gewichen: Wann stehen wir auf? Wo ist mein Hemd? Was wollen wir essen? Keiner versucht mehr, den anderen davon zu überzeugen, es zu Ende zu bringen oder noch eine Weile hinauszuzögern; keiner versucht mehr, irgendetwas zu
erreichen
, und man kann die Nähe des anderen ganz einfach nur genießen.
Gegen drei Uhr morgens wachte ich auf und stellte fest, dass meine Hand in Charlies Schritt lag. Wir lagen nackt nebeneinander unter der Decke – er hatte mich davon überzeugt, dass wir das in unserer ersten gemeinsamen Nacht zu sein hatten –, er auf dem Rücken, ich auf der Seite. Mein Kopf ruhte auf seinem Arm, in dem er mich hielt, und meine Handfläche lag auf seinem Oberschenkel. Ich war verlegen. Doch wenn ich die Hand wegnahm, würde ihn das darauf aufmerksam machen, dass sie zuvor dort gelegen hatte? So vorsichtig wie möglich zog ich meine Finger langsam ein kleines Stück zurück, und wie ich es befürchtet hatte, bewegte er sich. Ohne die Augen zu öffnen, drehte er den Kopf, gab mir einen Kuss auf den Scheitel und schien sofort wieder einzuschlafen.
Ich starrte in die Dunkelheit. Hatte ich gerade etwas versucht? Hatte ich, wenn auch nur unterbewusst, herausfinden wollen, was ich mir erlauben konnte, was ungehörig wäre, wie weit wir beim anderen gehen konnten? Und er hatte entweder nichts bemerkt oder störte sich nicht daran. Ich legte meine Hand dahin zurück, wo sie gelegen hatte, und schlief auch wieder ein.
Als wir am nächsten Tag in Riley vor der Haustür standen, klopfte ich, und meine Großmutter, gekleidet in ein orangefarbenes, ärmelloses Kleid aus Acrylfaser – ihre nackten Arme sahen entsetzlich dünn aus –, eine durchsichtige Strumpfhose und orangefarbene Stöckelschuhe, öffnete uns. Um ihre winzige Taille hatte sie einen hautfarbenen Ledergürtel gebunden. Sie reckte den Hals, schaute mehrfach zwischen Charlie und mir hin und her, klatschte dann einmal in die Hände und sagte: »Oh, das wird ein
Spaß
!«, und streckte mir ihre Wange für einen Kuss hin.
»Das ist Charlie«, sagte ich. »Charlie, das ist meine Großmutter Emilie Lindgren. Ich hatte überlegt anzurufen, Granny, aber wir waren gerade in der Gegend, und ich …«
»Schätzchen, ich liebe Überraschungen.« Ich hörte den Schalk in ihr sprechen, als sie hinzufügte: »Und du hoffentlich auch.«
In Wahrheit hatte ich absichtlich nicht vorher angerufen. Zum einen, um nicht darauf aufmerksam zu machen, dass Charlie und ich die vorherige Nacht zusammen in Houghton verbracht hatten, zum anderen, weil ich nicht wollte, dass meine Mutter sich verpflichtet fühlte, kurzfristig ein opulentes Mahl vorzubereiten. Sie aßen für gewöhnlich um halb eins zu Mittag. Als wir das Haus betraten, war es viertel vor zwei.
»Mrs. Lindgren, ich musste Ihrer Enkelin versprechen, mich von meiner besten Seite zu zeigen«, sagte Charlie, doch bevor meine Großmutter etwas erwidern konnte, rief meine Mutter: »Wer ist es denn, Emilie?«
Dann erschien meine Mutter im Wohnzimmer, und ihre Augen wurden ganz groß. »Alice, wie schön, ich hatte dich allerdings erst nächstes Wochenende erwartet.«
»Ich dachte, wir schauen mal auf einen Sprung vorbei«, sagte ich. »Ich wollte dir jemanden vorstellen … Das ist Charlie. Charlie, meine Mutter.«
»Dorothy Lindgren«, sagte meine Mutter, und sie und Charlie gaben sich die Hand. Es folgte eine längere Pause, dann sagte meine Mutter mit weniger Begeisterung, als ich erwartet hätte: »Warum setzen wir uns nicht alle nach nebenan?«
War dieser Besuch keine gute Idee gewesen? Wir betraten das
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