Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
unmöglich war, lebte sie in der ständigen Angst, seinen Hass noch auf anderem Wege zu spüren zu bekommen. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. Tapfer entschied Ragnhild, ihre Tatenlosigkeit zu beenden. Doch noch bevor sie sich an diesem Tage aufmachen konnte, um sich nach Genauerem umzuhören, tauchte plötzlich Agatha von der Mühlenbrücke ohne jegliche Vorwarnung im Haus in der Reichenstraße auf.
»Agatha«, stieß Ragnhild erschrocken aus, als die Frau des Gewandschneiders Voltseco plötzlich vor ihr in der Diele stand. »Wo kommst du denn her? Wer hat dich eingelassen?«
»Nicht hier, wo uns jeder im Haus sehen und hören kann«, flüsterte Agatha und zog ihre Freundin mit sich. Heimlich und ungesehen verschwanden die beiden Frauen aus der Diele in eine dunkle Nische hinter der Küche.
»Ragnhild, ich kann nicht lange bleiben. Ich habe mich in aller Heimlichkeit aus der Schneiderei geschlichen, um dir zu berichten, was ich gerade über deinen zukünftigen Ehemann erfahren habe.«
»Was ist es?«, flüsterte Ragnhild zitternd. »Sag es mir, Agatha, oder mein Herz wird vor Aufregung aufhören zu schlagen.«
»Ich kenne seinen Namen. Bist du dir wirklich sicher, dass du es wissen willst?«
»Ja, o großer Gott, ja!«, sagte Ragnhild mit banger Stimme. Doch als sie schließlich den Namen ihres Zukünftigen erfuhr, wünschte sie fast, sie wäre ahnungslos geblieben. Augenblicklich schnürte sich ihre Kehle vor Ekel und Entsetzen zu. Sie schloss einfach nur die Augen und atmete tief durch.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Agatha besorgt, als Ragnhild keine Anstalten machte, die Augen wieder zu öffnen.
Ragnhild nickte bloß. »Gib mir einen kurzen Moment, gleich geht es wieder.« Es war nicht viel, was Ragnhild über ihren Zukünftigen wusste – schließlich wohnte er im Kirchspiel St. Jacobi und kreuzte somit nur selten ihren Weg –, doch was sie wusste, deutete darauf hin, umsonst gehofft zu haben, Conrad würde ihr gegenüber Gnade walten lassen.
Symon von Alevelde war alt, fett und faul, und somit das komplette Gegenteil von Albert. »Weißt du noch mehr?«
»Ich … ich weiß sonst nichts«, log Agatha ungeschickt. Sie hatte sich vorgenommen, sich mit ihren Ausführungen über die Begegnung mit Ragnhilds baldigem Ehemann zurückzuhalten, aber die Witwe durchschaute sie.
Ragnhild öffnete die Augen. Sie sah die Schneidersfrau direkt an. Es war so offensichtlich, dass sie noch mehr wusste, und so forderte sie Agatha auf, freiheraus zu sprechen. »Erzähle mir alles. Schone mich nicht, ich will vorbereitet sein.«
Agatha senkte den Blick, als sie sprach. Sie wagte es einfach nicht, Ragnhilds Gesicht zu sehen, wenn sie ihr beichtete, was für ein Scheusal ihr Zukünftiger war. »Symon von Alevelde kam soeben in die Schneiderei. Er wollte Maß nehmen lassen für ein festliches Gewand, welches er zu eurer Hochzeit zu tragen vorhat.« Agatha stockte.
»Und? Erzähle weiter!«
»Oh Ragnhild«, sprudelte es plötzlich aus ihr heraus. »Es war so furchtbar. Er … er ist ein fetter, ungehobelter Widerling, der unentwegt irgendwelche anzüglichen Bemerkungen über eure Hochzeitsnacht gemacht hat. Er stinkt und ist unansehnlich. Es tut mir so leid, dass ich dir nichts Angenehmeres erzählen kann, meine Liebe.«
Ragnhild schluckte schwer, doch sie war Agatha dennoch dankbar. Nur wenige Augenblicke und eine herzliche Umarmung später hastete die Schneidersfrau wieder aus dem Haus in der Reichenstraße. Ragnhild blieb geschockt zurück. Sie wusste, dass sie keine Wahl hatte, und sie wusste, dass sie aufhören musste, sich mit aller Kraft gegen den Gedanken zu wehren, bald die Frau eines anderen zu sein. Es war das Schicksal fast jeder Witwe, erneut verheiratet zu werden; warum sollte es ihr anders ergehen?
Nachdem Agatha das Haus verlassen hatte, entschied Ragnhild, zu ihren Kindern zu gehen. Sie waren jetzt alles, was ihr von Albert geblieben war. Vielleicht würde ihr aufgewühltes Wesen bei ihnen wenigstens einen Moment des Friedens bekommen. Doch sie hätte es besser wissen müssen. Luburgis war in ihrer Kammer; wie die Henne stets bei ihren Eiern. Trotzigen Blickes trat Ragnhild dennoch ein, nahm einen der Zwillinge hoch und schmiegte den Säugling an sich.
Luburgis wollte etwas sagen, doch sie hielt inne, als sie den vernichtenden Blick Ragnhilds auffing. Niemals hätte Ragnhild sich heute aus dieser Kammer vertreiben lassen. Ganz im Gegenteil; diesmal war es Luburgis, die zuerst
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