Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
würde er ihn besser genau im Auge behalten. Conrad kannte die Familie vom Berge gut genug, um zu wissen, dass er sich genau genommen sogar vor zwei Personen in Acht nehmen musste. Überall da, wo Johannes war, konnte eine gewisse andere Person nicht weit sein. Deshalb war es auch nicht auszuschließen, dass er von den Einflüsterungen seines Weibes vergiftet worden war. Diese Heseke war bei Weitem nicht so unschuldig, wie sie immer tat; nicht nur er wusste das. Doch für ein Weib war sie anscheinend nicht gerade dumm, denn in Gesellschaft konnte niemand ihr auch nur das Geringste nachsagen.
Mein Gott, dachte Conrad plötzlich kopfschüttelnd. Der Tag hatte ihm mächtig zugesetzt. Nun suchte er tatsächlich den Feind in den eigenen Reihen. Konnte es wirklich sein, dass seine eigene Familie ihm an den Kragen wollte? Was war, wenn das alles nur Hirngespinste waren und wenn Johannes aus reiner Tiefgläubigkeit auf dieser Reise bestand?
Conrad blieb stehen. Die Gedanken in seinem Kopf hatten sich verknotet, und die verstrickten Überlegungen begannen ihn zu verwirren. Fest entschlossen, sie für heute vorerst zu verbannen, stemmte er die Fäuste in die Seiten, legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. Was für ein Tag. Regentropfen fielen ihm aufs Gesicht. Er war mittlerweile bis auf die Bruche durchnässt. Während er sich mit beiden Händen über das Gesicht fuhr, um sich die Tropfen aus den Augen zu wischen, dachte er mit Vorfreude an den heißen Würzwein, den er sich gleich genehmigen würde.
Der Regen wurde stärker und das Prasseln um ihn herum lauter. Niemand, der es nicht musste, wagte sich bei diesem miesen Wetter noch nach draußen. Doch trotz der Nässe, der Kälte und der Dunkelheit hatte diese Einsamkeit nach den ganzen Disputen etwas Heilsames. Wie gern wäre er gleich allein im Haus und würde alle Weiber, die ihm zurzeit nichts als Ärger bescherten, für eine Nacht hinauswerfen.
Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, hörte er hinter sich die gleichen schmatzenden Geräusche, die er eben noch selbst beim Waten durch den Schlamm erzeugt hatte. Conrad brauchte etwas Zeit, um sich gewahr zu werden, was das bedeutete. Er war doch nicht allein! Wer zur Hölle war dort hinter ihm? Die Schritte wurden schneller, und Conrad drehte sich abrupt um. Doch er blickte bloß in die schwarze Nacht. Nichts war zu erkennen. Die Schritte verklangen in ebendiesem Moment; jetzt war es still. Ein Schaudern kroch Conrad den Rücken hoch. »Wer da!«, rief er übelgelaunt in die dunkle Gasse. Er erhielt keine Antwort. Konnte es womöglich der Nachtwächter sein, der seine Runden drehte? Fahrig fing er an, sich um die eigene Achse zu drehen. Nichts war zu sehen, zu viel Regen, zu wenig Licht. Mit festerer Stimme stieß er nun hervor: »Antworte, du Feigling!« Dann. Die Schritte. Da waren sie wieder. Oder war es doch bloß der Regen? Conrad war sich mit einem Mal nicht mehr sicher. Immer wieder wischte er sich das Wasser vom Gesicht, um besser sehen zu können. Hinter ihm? Nein. Neben ihm? Er drehte sich wieder um, konnte aber nur die Schwärze der Gasse sehen. Alles war still, nur der Regen war zu hören. Keine Schritte.
»Jetzt wirst du wohl verrückt, Conrad von Holdenstede«, sagte er sich selbst und schmunzelte über seine Hirngespinste. »Der Tag war wohl zu viel für dich, alter Mann.«
Gerade wollte er weitergehen, als er plötzlich direkt in eine Kapuze blickte. Das Gesicht des Trägers war von ihrem Schatten verdeckt. Ein Laut des Erstaunens entfloh Conrads Mund, und er taumelte rückwärts. Schon nach einem Schritt prallte er gegen einen anderen Körper. Bevor er die Flucht ergreifen konnte, traf ihn ein dumpfer Schlag auf den Hinterkopf, der ihn bewusstlos in den Dreck der Straße sinken ließ.
Tatsächlich ahnte niemand außer Ragnhild etwas vom wahren Grund für Luburgis’ Verschleierung. Von den Schreien geweckt, mit aufgerissenen Augen und zitternd vor Angst, hatte sie an diesem einen Morgen alles mit angehört, was in der Kammer nebenan vor sich gegangen war. Sie konnte Luburgis damals nicht helfen. Als Frau war sie machtlos. Nach den Schreien hatte Conrad das Haus verlassen, und zurück geblieben war das Weinen von Luburgis.
Ragnhild, die von Albert niemals geschlagen worden war, wusste die Geräusche natürlich dennoch zu deuten. Sie hatte in der Vergangenheit mehr als einen gewalttätigen Akt zwischen den Eheleuten unfreiwillig mit anhören müssen. Doch nie zuvor war es so schlimm
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