Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
mit den Tränen zu kämpfen hatte. Dass er seine offenkundige Trauer so ungeniert zeigte, machte ihn für seine Beobachter nur noch gefälliger.
Johann bemerkte die Blicke der anderen gar nicht. Tatsächlich war in ihm keinerlei Raffgier, keine Freude darüber, endlich im Rat an der Reihe zu sein. Vielmehr hatte er sich mit seiner Rolle als Gehilfe des großen Notars sehr wohl gefühlt. Er hatte es geliebt, den Gänsekiel für Jordan zu schwingen und somit Teil seiner außerordentlichen Taten gewesen zu sein. Viel zu plötzlich schien ihm diese Zeit jetzt vorbei. Niemand konnte ahnen, wie schmerzlich er schon jetzt ihre Gespräche während der Arbeit vermisste. Häufig hatten sie nächtelang zusammen in Jordans privater Schreibstube gesessen und viele Stunden über theologische oder philosophische Fragen diskutiert. Interessant und lehrreich waren diese Erklärungen gewesen, nie hatte Johann sich gelangweilt. Obwohl er manche Männer darüber hatte reden hören, dass er für den alternden Stadtnotar niedere Arbeiten verrichtete, war er dennoch glücklich mit seinem Amt gewesen. Jedes Stützen, jeder Botengang und jeder Wein, den er dem Magister gereicht hatte, wurden ihm hundertfach gedankt; so empfand es Johann. Ohne dass es so geplant gewesen war, hatte ihn all das zu Jordans Schüler und somit auch mehr und mehr zu seinem einzig denkbaren Nachfolger gemacht.
Als die schier endlosen Trauerfeierlichkeiten geendet hatten, wollte Johann sich von seinen düsteren Gedanken ablenken und ging in die Ratsschreiberei, wo alle Schreibarbeiten der Ratsnotare getätigt wurden. Er wusste genau, an diesem Tage würde er hier allein sein. Ein jeder Mann gab sich heute seiner Trauer hin oder verbrachte den Tag im Gebet. Johann hingegen trieb es zu seinen Büchern.
Als er an den Schreibtisch trat, den er häufig mit seinem Lehrmeister geteilt hatte, schnürte es ihm wiederum die Kehle zu. Er erblickte Jordans eigene, kostbar gestaltete Ausführung des Sachsenspiegels von Eike von Repgow, einen Stoß ordentlich gestapelter loser Blätter und seinen Gänsekiel. In der Mitte des Tisches lag das Registrum civitatis – das Erbebuch –, an dem sie zuletzt gearbeitet hatten. Es war noch aufgeschlagen; fast so, als ob der Magister des Rechts gleich wieder zur Tür hereinkommen würde.
Johann atmete tief ein. Fest entschlossen straffte er den Rücken. Er wollte die Arbeit jetzt gleich wieder aufnehmen, um endlich auf andere Gedanken zu kommen. Es würde seine erste eigene Amtshandlung als offizieller Notarius civitatis sein; und wider Erwarten flammte trotz der Trauer um seinen Freund und Lehrer etwas Stolz in ihm auf. Mit dem Zeigefinger fuhr er die Linien der letzten Erbebucheintragung nach und verwischte versehentlich die Tinte mit seinen feuchten Händen. Es war seine eigene Handschrift und nicht die von Jordan. Schon lange hatte er alle Schreibarbeiten für ihn übernommen. Unvermittelt wurde ihm klar, wie unendlich wertvoll diese Erfahrungen waren. Er kannte jeden Handschlag dieses Amtes, und doch plagten ihn Zweifel. Das anzutretende Erbe war riesig und der Druck gewaltig. Warum nur hatte er Furcht davor, diese Handlungen einfach weiterhin zu tun? Sein Geist war gewappnet, sein Wille stark, und nun war seine Zeit gekommen. Nein, er brauchte wirklich nicht besorgt zu sein.
»Danke, Jordan, für alles, was du mir beigebracht hast. Ich werde dir ein würdiger Nachfolger sein.«
TEIL II
Friesland und Hamburg
Winter und Frühling,
in den Jahren des Herrn 1269 und 1270
1
Das Pferd unter ihm hatte einen so furchtbar schaukelnden Galopp, dass Thiderich Schifkneht sich beherrschen musste, nicht regelmäßig nachzusehen, ob es unterwegs vielleicht eines seiner vier Beine eingebüßt hatte. Leider hatte der Goldring der Dame Ragnhild für nicht viel mehr gereicht als für den Proviant in seinem Beutel und die fuchsfarbene Stute, die er gerade ritt. Millie war ihr wohlklingender Name.
Der Bauer, dem er sie abgekauft hatte, schien nicht im Geringsten traurig über ihren Verkauf gewesen zu sein. Schonungslos ehrlich hatte er Thiderich erzählt, dass er sie aufgrund ihrer Sturheit nicht Millie, sondern nur Muli genannt hatte. Schon nach den ersten Meilen bestand für Thiderich kein Zweifel mehr, dass sie diesen Namen auch wirklich verdiente.
Mit einem unglaublichen Ruck hatte sie im vollen Galopp einfach vor einer Pfütze angehalten und dabei die Hufe ihrer nach vorn gestemmten Vorderbeine tief in den nassen Boden gedrückt, sodass
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