Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
trug er das Haar in einem kleinen Beutel um seinen Hals. Ab und zu holte er es heraus, um daran zu riechen. Er sah es gewissermaßen als zusätzlichen Lohn an; denn sehr wahrscheinlich würde es ihm sein Leben lang verwehrt bleiben, das Haar einer Dame von Stand zu berühren.
Die Gedanken an Ragnhild trugen ihn durch das nasskalte Wetter, welches seine Glieder steif werden ließ. Eigentlich war er seit Beginn des Rittes schon bis auf die Haut durchnässt. Die kurzen Regenpausen fielen ihm irgendwann schon gar nicht mehr auf. Doch er konnte wirklich von Glück sprechen, dass es diesen Winter kaum schneite. Auch kam es ihm durchaus zugute, dass er es gewohnt war, draußen zu schlafen, denn die letzten Nächte wären sonst nur schwerlich zu ertragen gewesen. Der Boden war überall durchweicht, und nach kurzer Zeit des Liegens kroch einem der Frost unter die Haut. Schon sechs Tage und Nächte hatte er auf diese Weise verbracht – des Tags auf Millie und des Nachts auf einer halbwegs trockenen und möglichst nicht gefrorenen Stelle unter einem Baum. Es war eintönig.
Leider kam er schlechter voran als geplant; sei es wegen des störrischen Gemüts der Stute, wegen des Wetters oder wegen der wunden Stellen an seinem Hintern und den Innenseiten seiner Beine. Er war es nicht gewohnt, so lange zu reiten, und jeder Knochen tat ihm weh. Manches Mal stieg er sogar freiwillig vom Pferderücken und lief ein Stück zu Fuß. Doch anhalten konnte er erst dann, wenn das schwindende Licht des Abends hereinbrach und ein Weiterkommen unmöglich machte. Jeder Lichtstrahl musste genutzt werden, um voranzukommen, denn die Zeit war knapp.
Glücklicherweise gab es in den friesischen Seelanden, zu denen auch das angestrebte Rüstringen zählte, einige Geistliche, die als Missionare aus Hamburg und anderen Städten zu den Friesen ausgezogen waren, um den Ungläubigen den christlichen Glauben beizubringen. In diese Männer legte Thiderich all seine Hoffnung, denn nur mit ihnen würde er sich in seiner Sprache unterhalten können.
Seine Bedingungen waren dennoch unlängst schlechter als die des anderen Boten. Dieser war nämlich schon vier Tage zuvor aufgebrochen und außerdem in Begleitung eines eigenen Sprachkundigen, was die Suche nach Albert für ihn sicher erleichtern würde.
Thiderich hingegen hatte nur wenige Münzen bei sich, keinen Übersetzer und eigentlich auch keinen genauen Plan. Er hatte nur sich selbst und damit das Geschick eines Spielers und Überlebenskünstlers. Das allein musste ausreichen. Doch die Tatsache, dass er die letzte Hoffnung der schönen Ragnhild war, spornte ihn an.
Nach ungefähr einer Woche veränderte sich die Landschaft, wie Heyno es vorausgesagt hatte. Je länger er ritt, desto flacher wurde es. Weniger Bäume säumten seinen Weg und dafür umso mehr weite Flächen, die im Sommer wohl saftige grüne Wiesen waren.
Thiderich war erstaunt über die frische, klare Luft, die ihm mit der Zeit entgegenschlug. Tatsächlich roch sie zeitweise ein wenig salzig; auch hierbei hatte sein Oheim recht behalten. Eigentlich hatte er bisher in allen Punkten recht, sogar, was das Aussehen der Leute und ihre Sprache anbelangte. Thiderich hatte seinen eigenen Kopf und glaubte häufig, dass sein ältlicher, armlahmer Verwandter wohl kaum in der Lage sein konnte, so viel mehr über das Leben zu wissen als er. Doch je weiter er ritt, desto mehr beschlich ihn das Gefühl, schon einige Male mit dieser Einschätzung falschgelegen zu haben.
Durch seine zahlreichen Schiffsreisen war Heyno viel in der Welt herumgekommen und hatte verschiedene Völker getroffen. Dieses Wissen wollte er vor der Reise mit Thiderich teilen, um ihn bestmöglich vorzubereiten. Schnell war jedoch klar, dass die Mühe vergebens war, denn sein Neffe hatte ihm nur widerwillig zugehört. Einfach losziehen, ohne Regeln, ohne Plan, das war es, was Thiderich konnte und wollte. Gott sei Dank, dachte er jetzt, hatte Heyno ihn schlussendlich zum Zuhören gezwungen; er nahm sich fest vor, in Zukunft besser auf die Worte des Älteren zu hören.
Heute war der achte Tag. Mit schweren Knochen erhob sich Thiderich von seiner feuchten Schlafstelle und befreite seinen Mantel wie jeden Morgen notdürftig von Sand und Moos. Dann kümmerte er sich um sein Pferd. Millie wartete wie immer brav dort, wo er sie am Abend zuvor angebunden hatte. Nachdem er lobend ihren Hals geklopft hatte, ging er zu seinem Beutel und kramte etwas Hafer heraus. Da sie auf den morastigen Wegen
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