Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
die Öffnung der Laube getreten und begrüßte alle umstehenden Männer durch ein erhabenes, aber nicht hochmütiges Nicken. Obwohl er ein guter Redner war, der schon oft zu den Hamburgern gesprochen hatte, verspürte er seit dem Erwachen am Morgen eine große Aufregung. Nicht verwunderlich, denn dieser Tag war wahrlich etwas ganz Besonderes. Neben ihm stand, mit würdig geschwellter Brust, Johann Schinkel. Er war der eigentliche Ehrengast des heutigen Tages, da er das Werk seines berühmten Vorgängers zur Vollendung gebracht hatte.
»Wohlan, mein Freund. Seid Ihr bereit für den Jubel der Menge? Ihr habt ihn Euch redlich verdient.« Bertram Esich hatte dem Ratsnotar die Hand auf die Schulter gelegt und umfasste sie mit festem Griff.
»Ich war nie so bereit dafür wie in diesem Moment«, antwortete Johann Schinkel feierlich.
Daraufhin wandte sich der Bürgermeister den Hamburgern zu, stellte sich besonders gerade hin, um so über seine geringe Körpergröße hinwegzutäuschen, und ließ seine tiefe Stimme erklingen. »Ihr Bürgerinnen und Bürger Hamburgs, gewährt mir einen Moment der Stille«, sprach Bertram Esich die Menge zu seinen Füßen an, die sogleich verstummte. »Auf diesen Tag haben wir alle gewartet. Heute beginnt eine neue Zeit für jeden unter Euch. Viele Wochen sind vergangen, in denen die Ratsherren das veraltete Recht, welches vor und seit der Vereinigung der Stadt gegolten hatte, zu einem fortschrittlichen Stadtrecht entwickelt haben. Nicht dem Geringsten unter Euch noch Euren Kindern oder Kindeskindern soll nun mehr Unrecht durch die Männer des Gerichts widerfahren. Keine Willkür mehr, sondern mit Gleichheit und Gerechtigkeit werden noch die Erben jener Richter richten, welche jetzt im Amte sind. Sie alle sollen sich fortan auf dieses eine Buch berufen, das heute seine Gültigkeit erlangt.«
Bertram Esich packte das Ordeelbook mit beiden Händen und hob es weit über seinen Kopf, sodass alle es sehen konnten. Ein ohrenbetäubender Jubel folgte, der von immer neuem Rufen genährt wurde, sobald der Bürgermeister mit dem Buch in eine andere Himmelsrichtung zeigte. Erst als er es Johann Schinkel übergab, damit er die Hände für die Fortführung seiner Rede frei hatte, kehrte wieder Ruhe ein. Esich grinste unkontrolliert. Sein feierliches Gesicht war ihm heute aufgelegt wie eine Maske, der man sich unmöglich entledigen konnte. »Ihr guten Leute, hört, was ich Euch sage. Meine Worte mögen kühn sein, doch bin ich mir ihrer so sicher, wie ein Mann es nur sein kann. Mit diesem Werk ist uns eine bessere Zukunft bestellt. Genau wie eine unserer Hamburger Handelskoggen wird uns das Ordeelbook um die tückischen Klippen und Untiefen allen Übels in die sicheren Gewässer der Gerechtigkeit führen. Wo wir uns einst das Recht der Lübecker zu eigen gemacht haben, werden sich nun andere an unserem Recht bedienen, um ihren Städten zu mehr Gerechtigkeit und Freiheit zu verhelfen. Bald schon – das spüre ich – wird man mit dem Finger der Bewunderung auf uns zeigen, auf dass wir anderen ein gutes Beispiel an Redlichkeit und Christlichkeit sind.«
Kaum war die Rede Bertram Esichs beendet, rissen die Bürger die Hände erneut nach oben und jubelten. Nur mit Mühe und ausschweifenden Armbewegungen konnte er die Hamburger ein letztes Mal zur Ruhe zwingen. »Drum lasst uns noch hören, wie unser Ratsnotar verliest, welche Teile das Buch enthält. Danach soll das Fest beginnen.«
Johann schlug das schwere Ordeelbook auf. Obwohl er die Einteilung der Artikel natürlich auswendig kannte, tat er so, als würde er sie verlesen. Immer wieder richtete er den Blick in die Menge, als er mit lauter Stimme die zwölf Abschnitte des Ordeelbooks aufzählte.
»That erste stucke is van erue. That andere stucke is van eruetins. That dridde stucke is van delinghe …«
Wie von selbst verließen die Worte seinen Mund. Fast ertönten sie wohlklingend wie eine Minne, so stimmig erschien ihm die Einteilung der Abschnitte in Erbgut, Erbzins, Teilung, Schenkung, Vormundschaft, Klagen vor Gericht, Zeugenbeweise, Dienst, Gericht und Strafe, Verbrechen, Vorsatz, Diebstahl und Raub. Nach seinem letzten Wort klappte Johann Schinkel das Buch mit einem lauten Geräusch zusammen und labte sich an dem nicht enden wollenden Jubel der Hamburger. Dies war sein Lohn für wochenlange Arbeit in der stickigen und staubigen Ratsschreiberei. Wenn doch nur Jordan von Boizenburg noch hätte erleben können, was sein Lebenswerk den Bürgern
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