Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Ledersäckchen hinter seinem Rücken. Sie übergab ihm den Becher und fragte, ob er nicht hineinkommen wolle, doch Albert verneinte dies und streichelte sanft ihre Wange. Darauf schenkte sie ihm noch ihr herzlichstes Lächeln und ließ Albert wieder allein; allein mit seinem kleinen Geheimnis.
Ohne dass er sich tatsächlich bewusst dafür entschieden hatte, begannen seine Finger, die Schnüre des Säckchens zu lösen. Zitternd vor Aufregung blickte er hinein und entdeckte eine Haarsträhne. Sie war blond, fast golden, und sie kam Albert mit einem Mal sehr kostbar vor. Einem unerklärlichen Instinkt folgend, führte er die Öffnung des Ledersäckchens an seine Nase. Er schloss die Augen und roch. Der intensive Geruch des feuchten Leders mischte sich mit etwas, das Albert das Blut in den Kopf schießen ließ. Sein Herz begann zu rasen. Das gleichmäßige Rauschen des Regens versetzte ihn in eine rätselhafte Stimmung. Fast schien es, als ob es nur noch ihn, diese Haarsträhne und den Regen gäbe. Vor seinen geschlossenen Augen erschienen ihm plötzlich Bilder. Dieser Geruch! Dieses Haar! Noch einmal nahm er den intensiven Duft in sich auf. Er sah eine Kammer. Ein Kohlebecken. Dann kamen Geräusche hinzu. Er vernahm das Weinen von einem, nein, zwei Säuglingen und dann … dann sah er ihr Gesicht. Ragnhild! Das blonde Haar in dem Säckchen war das ihre. Jetzt konnte er es sehen – er erinnerte sich!
Albert konnte nicht wissen, dass Tettla ihn beobachtete. Seit dem Besuch der beiden Fremden war sie höchst beunruhigt. Auch wenn er geblieben war, empfand sie große Angst; sie konnte nicht erklären, warum. Als sie zum unzähligsten Male zur Tür ging, um durch einen kleinen Spalt heimlich auf ihren Verlobten zu blicken, war die Stelle, an der er eben noch Holz gehackt hatte, plötzlich leer. Ohne zu zögern, rannte sie hinaus in den Regen und rief seinen Namen. Ihr Herz raste, und die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie fand den Becher, den sie ihm eben noch gebracht hatte, auf dem Boden; die noch immer dampfende Flüssigkeit war ausgelaufen. Ihr Rufen wurde zu einem Schreien. Sie drehte sich um sich selbst und schirmte die Augen vor dem Regen ab. Ihr Haar war bereits vollkommen durchnässt, und ihr Kleid klebte an ihrem Körper. Dann ließ sie das Klappern von galoppierenden Hufen herumschnellen. Es war Albert, der, ohne sich ein letztes Mal umzuwenden, vom Hof preschte und somit Tettla für immer verließ.
Er hatte sie aus dem Augenwinkel gesehen, nass vom Regen und mit schreckgeweitetem Mund. Doch er brachte es einfach nicht übers Herz, sie noch einmal direkt anzusehen. Was hätte er sagen sollen, um ihren Schmerz zu lindern? Er wusste es nicht, und darum ritt er wie der Teufel an ihr vorbei – fast so, als wäre es weniger schmerzhaft, wenn er schnell ging.
Albert meinte ihre Schreie noch meilenweit hören zu können, und es zerriss ihm schier das Herz. Sie tat ihm unendlich leid, aber er konnte nicht anders. Er musste zu seiner Frau und seinen Kindern. Sie brauchten ihn. Dort war sein Platz!
Die Strecke zwischen Bodo und Nicolaus verlängerte sich mit jedem Galoppsprung. Auch wenn sie beide schnelle Pferde ritten, verfügte das Pferd Bodos doch über größere Ausdauer.
Nicolaus ließ seinen furchtlosen Gefährten ziehen und trieb sein Pferd nicht weiter zu diesem mörderischen Tempo an. Auch wenn ihm mindestens genauso viel daran lag, ihr Ziel noch an diesem Tag zu erreichen – schließlich ging es auch um seinen Kopf –, überwog dennoch die Angst vor einem Sturz. Der Boden war mittlerweile unberechenbar und weichte mit jedem Regentropfen mehr zu einer glitschigen Masse auf. Abgesehen davon war der Missionar schon über und über mit dem Schlamm bedeckt, den die Hinterläufe von Bodos Pferd aufgeschleudert hatten. Nicolaus konzentrierte sich bloß noch darauf, die Strecke zu Bodo nicht allzu groß werden zu lassen, um seinen Vordermann nicht vollends aus den Augen zu verlieren. Der Regen erschwerte diesen Balanceakt; kalt lag er auf seinem Körper und ließ Gesicht und Finger einfrieren.
Bodo bog mit einer gefährlich anmutenden Schräglage um eine Linkskurve und verschwand hinter den Bäumen. Nicolaus folgte seinen Spuren. Der Regen wurde immer stärker, und der gleichmäßige Dreitakt der Hufe seines Pferdes übertönte alle Geräusche. Mit halb zugekniffenen Augen gegen die dicken Tropfen blinzelnd, galoppierte nun auch Nicolaus um diese Kurve. Viel zu spät erst sah er, dass sich gleich
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