Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
Vom Netzwerk:
ihr Leben im Kloster zu verbringen. Die Gewissheit darüber, nicht freiwillig ins Wasser gegangen zu sein und ihr Kind nicht mutwillig allein gelassen zu haben, gab ihr Kraft. Diese Kraft wollte sie nun aufwenden, um mit den Schwierigkeiten des Klosterlebens umzugehen; und ihre größte Schwierigkeit würde ganz sicher Ingrid sein. Wenn sie aber starken Willens blieb, ihre Beherrschung nicht verlor und fügsam alle Gemeinheiten der neuen Magistra ertrug, dann würde diese sicher sehr bald müde werden, dieses Spielchen mit ihr zu spielen.
    »Kommt herein«, schallte es aus dem Zimmer, in dem noch eine Nacht zuvor die altehrwürdige Magistra gelegen hatte, die Ragnhild schon jetzt vermisste. Folgsam trat sie ein und fragte mit gesenktem Blick: »Was wünscht Ihr von mir, ehrenwerte Magistra?«
    Sofort nach diesen Worten fuhr Ingrid, die bisher mit dem Rücken zu Ragnhild gestanden hatte, herum. »Zunächst wünsche ich, dass Ihr nur dann sprecht, wenn Ihr etwas gefragt werdet. Von Eurem Geplapper bekomme ich Kopfweh.«
    Eine Weile lang sagte keine der beiden Frauen ein Wort. Ingrid trank eine dampfende Flüssigkeit aus einem Holzbecher und betrachtete Ragnhild dabei eingehend aus der Entfernung. Sie genoss es zu wissen, jetzt von niemandem mehr dabei gestört werden zu können. Keine der Schwestern würde es wagen, einfach in das Gemach der Magistra zu stürmen, ohne vorher um Einlass zu bitten. Es war also das erste Mal seit Ragnhilds Eintritt ins Kloster, dass ein genaues Betrachten ihrer Feindin ungestört möglich war. Ingrid ging auf Ragnhild zu. Noch immer hielt diese den Kopf gesenkt. Dann zückte die Magistra einen Zeigefinger, legte ihn an Ragnhilds Kinn und hob damit den Kopf ihrer Feindin nach oben, bis sich ihre Blicke kreuzten. Ingrid begann zu grinsen, Ragnhilds Miene war unbewegt. Erst nach einer elend langen Weile ließ die Magistra ihren Finger wieder sinken. Langsam schritt sie um die ihr untergebene Schwester herum. Eingehend betrachtete sie jedes Detail an ihr. Leider musste sie es zugeben: Ragnhild hatte sich in den letzten Jahren kaum verändert. Noch immer waren ihre Hüften kräftig, doch ihre Taille schlank. Die blauen Augen hatten nichts von ihrer Schönheit eingebüßt, und auch wenn die Haube auf ihrem Kopf nicht viel Einblick gewährte, kräuselten sich dennoch hier und da ein paar dieser unverschämt hellen Haarsträhnen. Am meisten jedoch neidete Ingrid ihr die immerzu rosig schimmernde Haut. Ragnhilds Gesicht war ebenmäßig und strahlend weiß, nur ihre Wangen schienen stets eine leichte Rötung zu haben.
    Die Magistra hingegen hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich selbst zu betrachten. Jedes Mal war der Schock noch größer als der vorangegangene, denn jedes Mal sah ihr Antlitz schlimmer aus. Sie konnte deutlich fühlen, dass ihr Gesicht von schmerzhaften Beulen überzogen war, die sich von Zeit zu Zeit öffneten und einen dicken, grünlich gelben Brei freiließen; sehen wollte sie diese Grässlichkeiten aber irgendwann nicht mehr. Ihr Neid auf alle Frauen, die mit einer ebenmäßigen Haut gesegnet waren, war allerdings nach wie vor ungebrochen.
    Ragnhild spürte den eiskalten Blick der neuen Magistra auf sich und wagte kaum zu atmen. Auch wenn Ingrid sie bisher nicht ein einziges Mal körperlich angegriffen hatte und sie eigentlich überzeugt davon war, dass sie einen solchen Angriff auch in Zukunft nicht zu befürchten hatte, waren Ingrids bisherige Methoden, sie zu quälen, nicht weniger schlimm für Ragnhild gewesen. Mit aller Macht versuchte sie, sich auf das vorzubereiten, was ihre Feindin wohl dieses Mal für sie bereithielt.
    Nach einer halben Ewigkeit begann Ingrid endlich zu sprechen. »Wie Ihr Euch sicher denken könnt, habe ich mit meinem neuen Amt eine Menge neuer Aufgaben bekommen, die es zu erledigen gilt.«
    Ragnhild überlegte, ob dies nun eine Frage war und sie etwas antworten sollte oder besser nicht. Doch in diesem Moment sprach Ingrid auch schon weiter.
    »Um diese Aufgaben bewältigen zu können, brauche ich eine der Schwestern, die mir all das abnimmt, wofür meine Zeit nun zu kostbar geworden ist. Ihr werdet diese Schwester sein. Immer wenn ich nach Euch schicken lasse, kommt Ihr unverzüglich zu mir; habt Ihr das verstanden, Schwester Ragnhild?«
    »Ja, ehrwürdige Magistra. Es wird mir eine Freude sein, Euch zur Hand gehen zu dürfen.«
    Ingrid begann gleich darauf schallend zu lachen. »Ha! Es wird dir eine Freude sein? Dass ich nicht lache,

Weitere Kostenlose Bücher