Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
und Ragnhild hin und her. Das konnte nicht sein. Ragnhild war seine Frau. Wie konnte sie da einem anderen zum Eheweib gegeben werden? So viele Fragen schossen ihm gleichzeitig in den Kopf. Er ballte die Fäuste. Seiner Verwirrung folgte Wut. Am liebsten hätte er gebrüllt: Elender Lügner, was erlaubt Ihr Euch!, doch es war nur ein einziger Satz, der seine Lippen auch tatsächlich verließ. Mit Blick auf die noch immer am Boden liegende Ragnhild fragte er: »Ist das wirklich wahr? Sag mir die Wahrheit!«
Das Senken ihrer Augenlider war Albert Antwort genug. Es stimmte also tatsächlich. Er war zu spät gekommen; nur einen einzigen verdammten Tag zu spät; und Ragnhild hatte sich einen anderen Mann genommen.
Vollkommen unbemerkt waren Walther und Thiderich hinter Albert getreten und hatten ihm die Hände auf die Arme gelegt. Diese Geste erlöste Albert aus seiner Starre und ließ ihn die bedrohlich geballten Fäuste wieder öffnen. Kurze Zeit später wurde er von allen Seiten mit Fragen bestürmt. Unzählige Gesichter blickten ihn an, und jeder Einzelne wollte wissen, was genau passiert war. In kürzester Zeit hatte sich eine riesige Traube um den Verlorengeglaubten versammelt; doch sein Mund blieb noch immer verschlossen. Er konnte den Blick einfach nicht von Ragnhild abwenden. Erst als ihr soeben angetrauter Ehemann sie rüde an den Armen hochzerrte und mit ihr davonging, war er überhaupt in der Lage, sich zu rühren. Dennoch, das Letzte, wonach ihm jetzt der Sinn stand, war, die unverhohlene Neugier der reichen Pfeffersäcke um ihn herum zu stillen. Liebend gern hätte er sich einfach in der nächsten Schenke verkrochen und sich besinnungslos gesoffen, doch dazu gab es keine Gelegenheit.
Der Bürgermeister Bertram Esich trat plötzlich aus der Menge hervor. Ohne viele Worte bat er Albert und seine Begleiter zu sich in sein Haus.
Alberts erster Impuls war es, die Einladung abzulehnen. Alles in ihm sträubte sich dagegen, nun, da er sich seiner Ragnhild so nah wusste, nicht zu ihr zu gehen. Er wollte losrennen, Symon hinterher. In ihm tobte der Drang, seinem Widersacher das Gesicht zu zerschlagen. Doch Albert fühlte, dass er keine Wahl hatte. Allein das Wissen, dass er wohl viele der Antworten auf seine unzähligen Fragen bei Bertram Esich bekommen würde, ließen ihn mitgehen.
Auch in diesem Moment war es wieder Walther, der sich seiner Freunde annahm, wie er es auch die vorherigen Tage schon getan hatte. Brüderlich legte er seine rechte Hand auf die Schulter des Mannes mit dem verletzten Bein und die linke Hand auf die Schulter des Mannes mit dem verletzten Herzen. Dann deutete er auffordernd mit dem Kinn in Richtung des Bürgermeisters.
Die Menschentraube öffnete sich vor den Männern und gab einen Weg frei. Schnell schritten die Freunde hindurch und folgten dem kleinen Bertram Esich, während sie spürten, wie sich die Blicke der enttäuschten Neugierigen förmlich in ihre Rücken brannten.
10
Ragnhild wurde noch immer von Symon durch die Gassen gezerrt. Es gab keine Möglichkeit für sie, sich aus seinem Griff zu befreien. Viel schlimmer jedoch war, dass sie ab heute auch kein Recht mehr hatte, sich aus seinem Griff zu befreien. Sie war seine vor Gott angetraute Ehefrau und hatte zu tun, was er ihr befahl.
Immer wieder fiel sie auf den unwegsamen Straßen hin. Unerbittlich schleifte Symon sie weiter. Ragnhild versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Albert lebte. Er war zurückgekommen. Die ganze Zeit über hatte sie geglaubt, dass dieser Tag, wenn er denn je kommen würde, ein Tag der größten Freude für sie wäre. Doch sie hatte sich geirrt; so furchtbar geirrt!
Alles war anders gekommen, als sie es gedacht hatte. Albert war niemals tot gewesen und sie somit auch niemals eine Witwe – zu keiner Zeit! Was hatte sie bloß getan? Sie selbst hatte diese Ehe verschuldet und schlussendlich dafür gesorgt, dass sie beide nun niemals mehr vereint sein würden. Sie war es gewesen, die vor dem Rat um eine erneute Hochzeit gebeten hatte. Sie allein hatte ihr Schicksal besiegelt.
Der Gedanke, dass man es Albert wohl in diesem Moment auch genauso berichtete, zerriss ihr fast das Herz. Wie sollte sie ihm jemals die Wahrheit erzählen? Sehr wahrscheinlich würde sie nie die Gelegenheit bekommen, ihm zu erklären, dass sie damit nur ihre gemeinsame Tochter vor Jacob von Alevelde hatte retten wollen. Sicher würde er glauben, dass sie selbst diese Hochzeit gewollt und ihn einfach vergessen
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