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Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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vermuten, was genau sich während seiner Abwesenheit ereignet hatte und wie es all seinen Lieben ergangen war. Die Unsicherheit machte ihn schier verrückt. Während die Hufe seines Pferdes über den Boden flogen und das alte Laub des vergangenen Jahres aufwirbelten, überdachte er immer wieder die Worte Sibots und Juddas. Sie hatten ihn einerseits erschreckt, aber andererseits auch wieder beruhigt. Doch selbst wenn er nicht wissen konnte, wie schlimm es wirklich um die Sinne seiner Frau stand, war eines völlig klar: In welchem Zustand auch immer er sie antreffen mochte, er würde sie wieder zu sich nehmen. Mit ihr vereint zu sein war alles, was er sich wünschte.
    Als die Sonne dieses ungewöhnlich warmen Märztages ihren höchsten Stand schon lange verlassen hatte, erlaubten die Reiter ihren Pferden erstmals, das Tempo zu drosseln. Mensch und Tier atmeten stoßweise von der großen Anstrengung, die hinter ihnen lag.
    Walther, der noch niemals in Hamburg gewesen war, konnte nicht ahnen, was Thiderich und Albert bereits wussten. Der Weg vor ihnen schlug eine letzte Kurve und entließ die drei Freunde ganz plötzlich aus dem Wald. Da lag es vor ihnen. Hamburg. Sie hatten es geschafft!
    Die Männer wurden vom Anblick der Stadt regelrecht in den Bann gezogen. Blinzelnd schauten sie der strahlenden Sonne entgegen und ergaben sich für einen Moment ihrer Schönheit. Die seichten Wellen des Wassers der Alster glitzerten so hell, dass man kaum hineinschauen konnte. Nie zuvor war Albert dieses Spektakel aufgefallen. Fast hätte man sagen können, dass die Stadt leuchtete. Die in alle Himmelsrichtungen abfallenden Häuserdächer aus Stroh und Schindeln wurden unregelmäßig stark von der Sonne angeleuchtet und boten ein unwirkliches Schauspiel aus Rot und Orange. Der alles überragende Dom erschien ihnen wie ein mächtiger Wächter, der inmitten der Stadt seinen riesigen Schatten warf.
    Dies war seine Heimat – Albert war zu Hause.
    Mit letzter Kraft ritten sie in die Stadt hinein. Durch das gewaltige Millerntor und vorbei an dem Heiligen-Geist-Spital, in dem die Lahmen, Blinden und Tauben Hamburgs von den Franziskanermönchen versorgt wurden. Außer dem jungen Torwächter, der sie mit einer müden Handbewegung einließ, war kaum eine Menschenseele zu sehen. Die Straßen waren wie leergefegt. Nur spärliche Laute waren zu hören, und das gleichmäßige Geräusch der acht Hufe brach sich an den Häuserwänden. Sie passierten die Kirche St. Nikolai zu ihrer Rechten und ritten auf die Johannisstraße zu. Vorbei an der Niedermühle mit ihren mächtigen Wasserrädern, die rauschend das plätschernde Nass umwälzten, und vorbei an den Klöstern St. Marien Magdalenen und St. Johannis.
    »Ist das dein Hamburg?«, fragte Walther enttäuscht. »Wo sind die vielen Menschen, von denen du immer erzählt hast, Thiderich?«
    Alle drei schauten sich verwundert um. Außer ein paar streunenden Hunden und alten Bettlern war kaum jemand zu sehen.
    »Ich weiß es auch nicht«, gab Thiderich verwundert zurück. Angestrengt versuchte er sich zu erinnern, ob heute ein Heiligentag oder weltlicher Feiertag war, doch er wusste nicht einmal, welcher Wochentag es war.
    Mit fragenden Gesichtern ritten sie geradewegs auf den freien Platz in der Mitte der Stadt zu, der Berg genannt wurde, als Albert plötzlich seinen Rappen zügelte. »Hört ihr das auch? Das ist doch … Musik?«
    In diesem Moment vernahmen es auch seine Freunde. Je gebannter sie lauschten, umso deutlicher wurden die die Klänge. Doch woher kamen sie? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, denn im nächsten Augenblick wurde der Platz vollkommen unerwartet von etlichen Hamburgern geflutet. Flötenspieler kamen herbei und entlockten ihren Instrumenten liebliche Melodien. Kinder rannten lärmend herum, und alle Leute waren fein gekleidet. Je näher sie der Petrikirche kamen, desto mehr Leute strömten ihnen entgegen. Sie lachten ausgelassen, und niemand schenkte den drei Reitern Beachtung.
    Unbemerkt stiegen die Freunde von ihren Pferden; achtlos ließen sie die Zügel zu Boden gleiten. Wo eben noch eine gespenstische Stille vorgeherrscht hatte, fanden die Männer sich schlagartig in einer großen Festgemeinde wieder. Fast schien es, als wäre die Reise niemals gewesen. Nach all dem Grauen, das sie in den letzten Wochen durchlebt hatten, war die Situation unwirklich. Keiner von ihnen verspürte den Drang nach Ausgelassenheit. Viel übermächtiger war der Wunsch nach dem

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