Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
endgültigen Ende ihres Martyriums.
Albert kannte nur noch einen Gedanken – Ragnhild! Er musste sie finden; er musste zu ihr. Seine Blicke durchkämmten die feierlich gekleidete Menschenmasse.
Und tatsächlich, dort, wo sich die Menge am dichtesten zusammendrängte, entdeckte er sie. Sein Herz machte einen Sprung, und seinem Mund entwich ein Geräusch der Erlösung. Wie schön sie doch war. Er hätte sie aus jeder Entfernung erkannt. Ihre feinen Bewegungen verrieten sie einfach unter Tausenden. Nun würde alles gut werden. Ohne auf seine Begleiter zu achten, stürmte er los. Drei große Schritte hatte er bereits genommen. Beinahe rannte er. Nicht mehr viel trennte ihn von seiner Frau, als plötzlich Agatha von der Mühlenbrücke in seinen Weg trat. Albert hielt gezwungenermaßen inne und sah sie ungeduldig an.
Sie hatte eine Hand auf ihren Mund gepresst, und die andere reckte sie ihm entgegen. Zitternd berührte die Schneidersfrau sein Gesicht, als müsste sie sich vergewissern, dass er kein Geist war.
Albert wollte ihr ausweichen, sie zur Seite schieben und weiterlaufen; weiter zu Ragnhild. Aber dann sah er, dass Agatha weinte.
»Du kommst zu spät, Albert«, waren ihre einzigen Worte.
»Zu spät wofür?«, fragte er und richtete den Blick wieder suchend in die Menge.
In diesem Moment hob auch Ragnhild den Kopf. Fast war es, als hätte sie den lautlosen Ruf ihres Gemahls vernommen, denn ihre Augen erfassten Albert sofort. Sie erstarrte. Sein Anblick traf sie vollkommen unerwartet, und die Zeit schien für einen Moment stehen zu bleiben. Die Blumen in ihren Händen entglitten ihren Fingern und fielen vor ihr auf den Boden. All ihre Trauer und ihr Schmerz vermischten sich mit ihrer Liebe und Erleichterung zu einem einzigen Gefühl, welches sie mit ungeahnter Heftigkeit traf.
Um Albert herum wurde es still. Die Worte Agathas verschwammen zu einem brummenden Ton. Er schüttelte ihre Hände einfach ab und ging weiter auf Ragnhild zu. Bei jedem seiner Schritte blickte er nur auf sie und sie nur auf ihn. Fast gleichzeitig formten ihre Lippen tonlos den Namen des anderen. Wie von einem unsichtbaren Band wurden sie voneinander angezogen. Nur noch wenige Längen trennten die Liebenden.
Auch die Feiergemeinde hatte den Totgesagten mittlerweile bemerkt. Einige wollten Albert aufhalten, doch alles Rufen und Reden war zwecklos. Nichts davon erreichte ihn! Nichts davon erreichte sie! Auch Ragnhild war mittlerweile losgegangen. Ungeachtet dessen, was um sie herum geschah, den Blick starr, der Gang steif, den Mund leicht geöffnet.
Dann, kurz bevor sich ihre ausgestreckten Hände berührten, wurde sie unsanft aus ihrem Tagtraum gerissen.
Symon hatte mit Entsetzen das erniedrigende Schauspiel bemerkt und war sogleich zu Ragnhild gestürmt. Grob packte er sie am Arm und riss sie mit einem heftigen Ruck zurück, sodass sie unsanft zu Boden stürzte.
Albert sah sie fallen und wollte ihr zu Hilfe eilen, doch Symon stellte sich ihm in den Weg.
»Sieh mal einer an, der schiffbrüchige Sohn kehrt tatsächlich zurück«, bemerkte er höhnisch.
Ruckartig kam Albert zum Stehen. Er wusste nicht, was sich dieser fette, ehrlose Kaufmann einbildete, den er nur flüchtig kannte. Wutschnaubend blickte er Symon von Alevelde ins Gesicht, der es gewagt hatte, seine Ragnhild derart anzufassen. »Legt noch einmal Hand an meine Frau, und ich breche sie Euch auf der Stelle.«
Symon ging nicht auf die Drohung ein, sondern sagte nur: »Ihr wart lange fort, von Holdenstede. Habt Ihr überhaupt eine Ahnung, was hier gerade geschieht?«
Albert stutzte. Er spürte plötzlich, dass etwas nicht stimmte. Verwirrt blickte er zu Ragnhild, die noch immer am Boden lag, und dann erst erkannte er, was seine Augen und sein Verstand ihm bisher vorenthalten hatten.
Ragnhild. Sie war so fein gekleidet. Alle hier waren es. Die Wahrheit traf Albert wie ein Hammerschlag. Dies war kein Feiertag; und auch kein Tag zur Verehrung eines Heiligen. Dies war eine Hochzeit – und Ragnhild war die Braut!
»Es tut mir leid«, sagte Symon überheblich und ohne Mitgefühl. »Ihr kommt zu spät, Albert von Holdenstede. Wir wurden soeben rechtskräftig und vor den Augen Gottes in der St.-Petri-Kirche vermählt.« Symons Blick verengte sich, und seine Stimme wurde zu einem bösen Grollen. »Und mit Sicherheit werde ich es nicht dulden, dass mein Weib einem anderen Mann in die Arme läuft wie eine Dirne.«
Albert taumelte einen Schritt zurück und schaute zwischen Symon
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