Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Menschenleben getan sein würde. Runa versuchte sich einzureden, dass es der große Sakralbau war, den sie betrachten wollte, doch eigentlich hoffte sie, einen zufälligen Blick auf Johann werfen zu können, der in seinem Amt als Domherr täglich hier betete. Sie verweilte genau so lange vor dem Eingangsportal, wie sie es gerade noch verantworten konnte, ohne aufzufallen – vielleicht sogar noch ein wenig länger –, dann aber musste sie unverrichteter Dinge weitergehen.
Manchmal konnte sie sich nur noch über ihr Verhalten wundern. Als sie vor vier Jahren in das Kloster der Beginen eingetreten war, hätte sie sich niemals träumen lassen, dass sie sich jemals für einen Mann so sehr in Gefahr begeben würde. Die meisten Männer um Runa herum waren stets grausam zu ihr gewesen. Niemals wollte sie deshalb eine Ehefrau sein, um zu vermeiden, jemals einem Manne untertan sein zu müssen. Alles war anders gekommen, und dass sie mit einem Mal tatsächlich einen Mann liebte, überraschte sie selbst wohl am allermeisten.
Eigentlich musste sie ihrer Familie, unter der sie jahrelang gelitten hatte, fast dankbar sein, denn unter anderen Umständen hätte sie Johann niemals kennengelernt. Nach Jahren der Erniedrigung hatte sie es einfach nicht mehr im Haus in der Reichenstraße ausgehalten. Die ständigen Prügel von Conrad immer dann, wenn er zu viel getrunken hatte oder sie sich auch nur die kleinste Verfehlung leistete, der unerklärliche Hass ihrer Stiefmutter und die Verachtung ihrer damals elfjährigen Zwillingsbrüder: Das alles hatte sie nicht mehr ertragen und Conrad schließlich regelrecht angebettelt, sie ins Kloster zu schicken.
Zunächst hatte er sich strikt geweigert. Sie loszuwerden war zwar kein Verlust für ihn, doch die Zahlung an das Kloster für Runas Aufnahme und das Eintrittsessen, welches ebenso von ihm ausgerichtet werden musste, war nur mit einer beachtlichen Summe zu bestreiten. Schließlich wog er ab, dass ihn eine Heirat ebenfalls etwas kosten würde, und willigte ein.
Seither war Runa eine Begine, wie es auch ihre Mutter vor vierzehn Jahren gewesen war. Und genau wie ihre Mutter litt auch Runa jetzt unter Ingrid.
Die Magistra führte das Kloster noch immer mit harter Hand und trug die kleinsten Verfehlungen einer jeden Schwester dem Domdekan vor. Stets schien sie der Hoffnung zu sein, dann eine der besonders harten Strafen aussprechen zu können, die der Absprache mit dem Domdekan bedurften.
Schon häufig war Runa diejenige gewesen, die in den zweifelhaften Genuss einer solchen Strafe gekommen war. Einmal hatte sie zehn Stockhiebe auf die Handflächen bekommen, ein anderes Mal musste sie einen Tag und eine Nacht kniend in ihrer Kammer verbringen und immerzu im Wechsel das Paternoster und das Ave-Maria aufsagen.
Ingrid hatte es sich nicht nehmen lassen, diese Strafe höchstpersönlich zu beaufsichtigen. Ganz offensichtlich verspürte die Magistra Genugtuung dabei, die Neunzehnjährige zu quälen.
Doch diese Art von Misshandlung konnte Runa ertragen. Schon als Kind hatte sie gelernt, damit umzugehen. Ingrid bemerkte das schnell, und ebenso schnell hatte sie etwas anderes gefunden, mit dem sie Runa wirklich treffen konnte. Daraufhin musste die Magistra nur auf eine winzige Verfehlung Runas lauern, um ihren Plan sogleich in die Tat umsetzen zu können. Natürlich sollte dieser Tag nicht lange auf sich warten lassen.
Als Runa das Kloster betrat, wurde ihr gleich nach dem Durchschreiten des Eingangs die gute Laune des gelungenen Morgens wieder genommen.
Eine der älteren Beginen, Schwester Abeke, hastete mit geröteten Wangen auf sie zu. »Runa, schnell. Du sollst sofort zur Magistra kommen«, richtete sie ihr atemlos aus. »Ich habe dich schon überall gesucht.«
Runa zog verständnislos die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. »Ich war wie jeden Morgen in der Gröningerstraße, Abeke. Was gibt es denn diesmal zu beklagen?«
»Das weiß nur Gott. Aber nun rasch. Spute dich, du weißt, wie ungern sie wartet.«
»Ja, das weiß ich«, sagte sie missmutig und klopfte kurz darauf an Ingrids Tür.
»Herein«, ertönte es gewohnt verstimmt. Als die Magistra jedoch sah, wer um Einlass bat, wurde ihr Gesichtsausdruck noch strenger. Sofort ging sie zu ihrem Schreibpult, auf dem ein Altartuch lag.
»Diese Stickerei sollte ein Geschenk an den Pfarrvikar unserer Kirche St. Jacobi sein. Und nun schau dir an, was du getan hast. Jeder zweite Nadelstich ist schief«, donnerte Ingrid ungehalten
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