Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Johann Runas Augenbinde gelöst. Sie blickten einander an und küssten sich erneut.
Von da an war ihre Liebe geboren, und sie trafen sich in dem kleinen, windschiefen Haus, so häufig sie nur konnten. Wie Runa später erfuhr, war es seit jeher im Besitz von Johanns Familie. Doch kaum jemand wusste davon; und genau so sollte es auch bleiben. Immer dann, wenn er sich von dem arbeitsreichen Leben im Rathaus erholen wollte, zog Johann sich gerne hierhin zurück, wo ihn niemand fand. Nun war dieses Haus zu der Stätte ihrer Liebe geworden, und es schien mit jedem Mal, da sie sich hier liebten, wertvoller zu werden.
Plötzlich zuckte die Alte mit ihrem rechten Arm. Runa erwachte aus ihrem Tagtraum. Sie bemerkte jäh, dass sie seit geraumer Zeit dieselben Bewegungen vollführte, und bekam augenblicklich ein schlechtes Gewissen. »Bitte verzeiht, Mütterchen. Ich war so in Gedanken.« Sie legte den rechten Arm vorsichtig neben den Körper der Greisin und umrundete das Bett, um ihre linke Seite zu waschen. Dann führte sie ihr Selbstgespräch fort.
»Ich denke, ich weiß, was Ihr mich fragen wollt, und ich kann Euch versichern, dass unsere Liebe bisher unentdeckt geblieben ist. Niemand ahnt etwas, Ihr seid also die Erste, die davon erfährt, meine liebe Freundin«, sagte Runa schmunzelnd und strich der Alten zärtlich über die Hand. »Nicht einmal die anderen Schwestern im Kloster wissen etwas, und wie Ihr Euch sicher vorstellen könnt, muss das auch so bleiben. Aber ich gebe offen zu, Mütterchen, dass ich häufig nicht weiß, wie es weitergehen soll«, gestand Runa etwas traurig, während sie mit ihrem feuchten Leinen den Oberkörper der Dame wusch.
Bislang war Runas Verhalten unauffällig gewesen, denn ihre Tarnung war nahezu perfekt. Der Gang zu den Notleidenden und Armen im Heiligen-Geist-Hospital war schon immer eine Selbstverständlichkeit für die Beginen-Schwestern gewesen, denn Barmherzigkeit, Krankenpflege und Nächstenliebe stellten neben Armut, Keuschheit und Frömmigkeit die wichtigsten Eigenschaften ihres Ordens dar. Nur für die aufopfernde Pflege der Kranken und Alten durften sie sogar ihre Gebete vernachlässigen. Auch wenn Runa häufig das schlechte Gewissen plagte, nutzte sie diese Freiheit der Klosterschwestern stets für ihre Zwecke. Immer dann, wenn es sich anbot, schlich sie sich nach getaner Krankenpflege in das kleine Haus Johanns, nahe dem Hospital. Niemand hegte je Zweifel daran, dass die Krankenpflege an diesen Tagen einfach so viel Zeit in Anspruch genommen hatte, sodass Runa deshalb nicht rechtzeitig zum Gebet erscheinen konnte. Ganz im Gegenteil. Ihre Aufopferung wurde bei den Schwestern wohlwollend gewürdigt. Bisher war ihr Geheimnis also gewahrt, doch wie lange würde dieses Spiel noch so weitergehen? Runa wusste es nicht, und das plagte sie.
»Ich muss jetzt gehen, liebes Mütterchen«, sprach Runa, nachdem sie die alte Dame wieder angekleidet hatte. Ein letztes Mal setzte sie sich auf die Bettkante und nahm eine der runzligen Hände in ihre. »Ich danke Euch dafür, dass Ihr mir zugehört habt. Mein Herz fühlt sich jetzt leichter an. Bitte denkt nicht schlecht von mir, weil ich mich auf diese Weise versündige. Ich kann nicht anders. Ich liebe ihn!«
Die Greisin bewegte sich nur noch äußerst selten, doch in diesem Moment fühlte Runa deutlich, wie sie ihre Hand kurz drückte. Dankbar und zutiefst gerührt, küsste Runa ihre Stirn und verließ das Haus.
Der Gang vom Katharinen-Kirchspiel zum Jacobi-Kirchspiel war eigentlich eine Kleinigkeit, doch Runa verlangsamte mit Absicht ihren Schritt. Sie hatte es nicht eilig, ins Kloster zurückzukommen, wo sie ihre Gefühle wieder tief in sich verschließen musste, um sich nicht zu verraten. So spazierte sie gemächlich Richtung Norden und überquerte das Reichenstraßenfleet bis zum alten Marktplatz, über den es zur Sattlerstraße ging. Sie hatte diesen Weg mit Absicht gewählt, da sie so am Dom vorbeikam. Hier verweilte sie einen Augenblick.
Vor vierzehn Jahren hatte sie genau hier mit ihrer Mutter, Marga und Hilda gestanden. Mit kindgerechten Worten hatte die Magd ihr damals von der Aufgabe des Mariendoms als Mutter der vier Pfarrkirchen Hamburgs erzählt. Diese einprägsamen Worte hatte Runa niemals vergessen. Damals war der Bau noch sichtlich unfertig gewesen, doch Domdekan Sifridus hatte viel bewirkt. Schon längst waren viele Teile des Doms vollkommen, und doch war es zu bezweifeln, dass die Fertigstellung noch in einem
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