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Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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nehmen sollte. Ragnhild wusste, dass ihre Gedanken gefährlich waren, doch sie konnte nicht anders. Mit den Jahren war es zu ihrem am besten gehüteten Geheimnis geworden, dass sie der Lehre der Kirche nicht so recht traute. Obwohl sie sich noch niemals etwas hatte zuschulden kommen lassen, stand es außer Frage, dass es als Frau – und gerade als Dänin – ratsam war, sich vor den übereifrigen Gottesmännern der Stadt vorzusehen. Nicht selten war sie schon Zeuge gewesen, wie Frauen der Nachbarschaft wegen Nichtigkeiten von den Kirchenmännern zu harten Bußen getrieben wurden. Häufig hatte dafür die bloße Beschuldigung einer Neiderin ausgereicht. Um solch ein Schicksal zu vermeiden, trug sie selbst die Haube, mit der sie seit der Hochzeit ihr dickes, strohblondes Haar verdeckte, stets tief ins Gesicht gezogen und ihren Kragen tugendhaft hochgeschlossen. Wann immer ein Mann zu ihr sprach, senkte sie züchtig den Blick; genau so, wie es von Frauen im Allgemeinen erwartet wurde. Außerdem ging sie an jedem Feiertag zur Verehrung der Heiligen in die Kirche, fastete streng und legte regelmäßig, aber nicht auffallend oft die Beichte ab. Letzteres hätte ebenso Verdächtigungen nach sich ziehen können, da das Böse sich häufig hinter zu strenger Einhaltung des Glaubens versteckte, wie der überstrenge Pfarrvikar der Petrikirche zu sagen pflegte.
    Ja, Ragnhild fühlte sich häufig verschreckt von der Kirche, und es war leicht, sich neben dem größten Sakralbau der Stadt klein und demütig zu fühlen. Schließlich gab es nichts Beeindruckenderes weit und breit. Die steinerne Emporenbasilika protzte mit einem westlich gelegenen Turm mit mächtigem Eingangsportalund verglasten Dreifenstergruppen im östlichen Teil. Obwohl der Dom schon seit jeher ein imposanter Bau gewesen war, wurde das einstige Langhaus bereits seit vierundzwanzig Jahren zu einer dreischiffigen Halle umgebaut. Erhöhte Seitenschiffe, mächtige Kreuzpfeiler und breite gotische Maßwerkfenster sollten die Kirche zu Marias Ehren vervollständigen, wie Ragnhild von Albert gehört hatte. Außerdem ertönte es von überall, dass Domdekan Sifridus in den nächsten Jahren zusätzlich die Einwölbung des Klausurgebäudes, ein achtteiliges Rippengewölbe im Hauptschiff sowie ein vierteiliges Kreuzgewölbe in den Seitenschiffen plante. Albert hatte zwar versucht Ragnhild zu erklären, was das zu bedeuten hatte, doch so richtig konnte sie es sich nicht vorstellen. Was sie sich aber genau vorstellen konnte, war, dass es etliche weitere Ablässe geben würde, die für klingende Truhen in der Domfabrik sorgten, damit der Umbau voranging.
    Ragnhild schlug noch ein auffallend großzügiges Kreuz, um ihren lästerlichen Gedanken schnell wiedergutzumachen, und bog dann nach links in die Schmiedestraße ein. Sie versuchte sich etwas zu beruhigen. Wie so oft in letzter Zeit litt sie auch jetzt wieder an Atemlosigkeit, und wie so häufig war das Kind in ihrem Leib unruhig. Mit ihrer Rechten umfasste sie ihren Bauch und schaute sich um.
    Die Häuser in dieser Straße waren in den letzten Jahren von kleinen windschiefen Hütten zu ausgewachsenen und schmucken Fachwerkhäusern geworden. Grund dafür waren die großen Veränderungen der Stadt. Überall wurde gebaut, und an jeder Baustelle wurden Schmiedemeister gebraucht. Die vielen Aufträge hatten schon manchen Meister zu einem reichen Mann gemacht, und so langsam fing dieser Reichtum an, sich auch in ihren Häusern widerzuspiegeln.
    Die Schmiedestraße selbst war laut und unbehaglich. Hier gab es keine schwachen Jünglinge oder Weiber wie in der Beckmacherstraße. Ragnhild musste aufpassen, nicht aus Versehen umgestoßen zu werden. Überall wurde gehämmert und geklopft. Häufiges Zischen ließ sie regelmäßig zusammenzucken, und die Nebelschwaden in dieser Straße erschwerten ihr die Suche nach Albert. Aufmerksam schweifte ihr Blick umher und tastete die Häuser nacheinander ab. Die unteren Etagen der Schmieden waren zur Straßenseite offen. Rechts und links von den Öffnungen ragten Mauern hervor, die vor Funkenflug schützen sollten. Durch die starke Rauchbildung während der Schmiedearbeiten konnte Ragnhild zunächst nur langsam erkennen, welches Bild sich im Inneren der Häuser bot. Schwitzende Männer mit riesigen Oberarmen und rußverschmierter Kleidung hämmerten in gleichmäßigem Takt nacheinander auf ein glühendes Stück Eisen ein. Einer der Männer hielt stets das Eisen mit einem Handschuh und einer

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