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Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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gutes Kleid schon verzichten.
    Nachdem sie sich mit ungelenken Bewegungen umgezogen, ihr nasses Haar hastig mit einem Knochenkamm neu frisiert und unter einem Schleier verborgen hatte, verließ sie die Kammer. Niemand war zu sehen. Die Tür des Kontors war wieder verschlossen. Ragnhild stieg die Treppe hinab. Das Haus war still, doch ihr Herz pochte wild, als sie lautlos durch die Diele schritt. Von dem Wunsch beherrscht, jetzt nicht auf Luburgis zu treffen, setzte Ragnhild einen Fuß vor den anderen. Sie kannte sich gut; Lügen war nicht gerade ihre Stärke, und sehr wahrscheinlich würde es ihr bei einer Begegnung mit Luburgis nur schwerlich gelingen, sich nicht durch einen Blick oder ihr Verhalten zu verraten. Doch entgegen ihrer Befürchtung schaffte sie es schließlich unbemerkt auf die Reichenstraße.

3
    Zum zweiten Mal lief Ragnhild an diesem Tage nun die Reichenstraße entlang. Das Wetter hatte sich zum Glück gebessert. Es regnete nicht mehr, und der bleigraue dichte Himmel vom Morgen war einem freundlicheren Bild aus dünnen weißen Wolkenfetzen gewichen. Leider waren die Straßen so matschig wie zuvor, sodass Ragnhilds ohnehin schon nasse Lederschuhe nochmals eingeweicht wurden.
    Die Schwangere lief mit schnellen Schritten Richtung Westen. Bald schon kam sie an die Stelle, an der die Reichenstraße und die Brotschrangen sich kreuzten. Doch anstatt sofort weiterzulaufen, blieb sie kurz vor der Ratsapotheke stehen. Würde sie sich nach links wenden, käme sie zum Hafen und dann zur Zollenbrücke, welche zu der Grimm-Insel führte, zu der Albert heute als Erstes gegangen war. Würde sie sich aber nach rechts wenden, käme sie über die kleine Johannisstraße zur Beckmacherstraße, wo er als Nächstes hingehen wollte. Ragnhild entschied kurzerhand, dass ihr Gemahl unmöglich noch bei der Baustelle sein konnte. Zu viel Zeit war bereits vergangen, und so raffte sie ihre Röcke und lief nach rechts. Nach einigen Metern machten sich Stiche in ihrer Taille bemerkbar. Sie war zu schnell gelaufen, doch Ragnhild vernachlässigte den Schmerz und eilte weiter. Die enge Gasse der Beckmacher war gesäumt von Eimern, Fässern und Becken, die überall herumstanden und von den Weibern und Knechten lautstark zum Verkauf angeboten wurden. Den noch verbleibenden schmalen Durchgang musste sich jedermann mit zahlreichen Schweinen, Reitern, Bettlern und zwielichtigen Gestalten teilen. Ragnhild blieb nichts anderes übrig, als ihre Röcke fallen zu lassen, um mit den Händen ihren Bauch zu schützen. Zu ihrem Bedauern schleifte der Saum von Hildas Kleid nun zur vollen Gänze im Matsch. Schließlich hielt sie vor einem winzigen Fachwerkhaus, das kaum breiter war als eine Mannslänge und dessen oberes Stockwerk sich bereits verdächtig nach links neigte. Vor dem Haus stand ein Knecht. »He, Junge. Sag, war mein Gemahl heute schon hier?«
    Der Knecht schaute nicht wenig erstaunt ob der feinen Dame inmitten der dreckigen Gasse. Dann allerdings sagte er: »Wer ist Euer Mann?«
    »Albert von Holdenstede.«
    »Ja, der war hier. Ist aber schon wieder weg.«
    »Hab Dank«, waren Ragnhilds knappe Worte, bevor sie zum Ende der Beckmacherstraße lief, wo rechts die Pelzerstraße abzweigte. Schnell hastete sie an den Häusern der Kürschner vorbei, wo Tierfelle zu Mänteln und Mützen verarbeitet wurden. Schon allein der Geruch dieser Gegend trieb sie weiter. Zwischen diesen Häusern schien stets eine unbewegliche stinkende Wolke aus den Gerüchen von Kot, nassen Fellen und gegerbtem Leder in der Luft zu hängen.
    Schnell lief sie weiter und erreichte die freie Fläche in der Mitte der Stadt. Weil diese auf einer Anhöhe lag, wurde sie nur Berg genannt. Vor ihrer Schwangerschaft hatte ihr der Anstieg zum Berg nichts ausgemacht, doch nun waren ihre Beine schwer, und es fühlte sich fast so an, als ob die Erhebung über Nacht angewachsen war. Bloß noch zwei Straßen trennten sie von Albert. Ragnhild schritt vorbei an der Frohnerei, in der die Verbrecher der Stadt einsaßen, und durchquerte die Filterstraße. Aus Erschöpfung verlangsamte sie ihren Schritt – doch ebenso aus Demut.
    Von hier aus konnte man den Mariendom in seiner vollen Größe sehen. Das mächtige Gotteshaus löste stets tiefe Ehrfurcht in Ragnhild aus, und wie immer, wenn sie sich in der Nähe von Kirchenmännern wusste, befiel sie ein ungutes Gefühl. Das gewaltige Eingangsportal des Doms erschien ihr wie ein alles verschlingendes Maul, vor dem sie sich besser in Acht

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