Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
war froh, einen Grund zu haben, ihrem übel gelaunten Mann zu entkommen.
Vor der Tür erwachte Ragnhild aus ihrer Starre. Luburgis und Conrad durften sie auf keinen Fall hier entdecken. Furcht stieg in ihr hoch. Wohin sollte sie sich so schnell wenden? Die Treppe hinunter? In den Handarbeitsraum? Sie hörte bereits Luburgis’ Schritte. In letzter Minute presste sich Ragnhild rücklings an die Wand neben der Tür des Kontors. Gleich darauf öffnete sich diese laut quietschend. Ragnhild hielt die Luft an, kniff die Augen zu und drehte den Kopf zur Seite. Diese Geste war natürlich völlig überflüssig, da ihr Bauch viel weiter vorragte als ihre Nase. Jeden Moment rechnete sie damit, dass ihr die Tür gegen den gewölbten Leib sprang und man sie entdeckte; doch das passierte nicht.
Erst als sie die Schritte von Luburgis auf der Treppe hörte, die nun nach unten lief, um Conrad den gewünschten Wein zu holen, wagte Ragnhild sich zu rühren. Mit vorsichtigen Bewegungen schlich sie in ihre und Alberts Schlafkammer. Sie schloss die Tür möglichst leise hinter sich und setzte sich aufs Bett. Geschafft! Ragnhild verwarf einen Moment lang jede Haltung und sackte erleichtert in sich zusammen. Auf ihrer Stirn hatten sich kleine Schweißperlen gebildet, und in ihrem Kopf rauschte das Blut, während sie stoßweise atmete.
Was genau hatte sie gerade vernommen? Waren es tatsächlich geheime Worte gewesen, die bewiesen, dass Conrad ein übles Spiel mit Albert trieb? Oder spielte ihr Kopf ihr einen Streich, weil sie sich schuldig fühlte, ihrem Mann durch die Hochzeit so viele Schwierigkeiten eingebracht zu haben? Nein! Ragnhild hegte keinen Zweifel. Je länger sie über die eben erlauschten Worte nachdachte, desto sicherer war sie sich, etwas sehr Bedeutsames gehört zu haben. Nur was genau? Conrad hatte von dem Todestag ihres Schwiegervaters geredet und sein eigenes Geschick lobend erwähnt. Aber wie stand das alles miteinander in Verbindung? Schon lange hatte Ragnhild den Verdacht, dass sich etwas Fragwürdiges um Conrad rankte, aber sie konnte es niemals beweisen und hatte deshalb auch bis heute geschwiegen. Alles hatte mit Conradus’ Tod begonnen. Von Albert wusste sie, welchen Aufruhr die Testamentsverkündung im Rathaus damals verursacht hatte und wie zweifelnd die Ratsherren den ungerechten letzten Willen des eigentlich gerechten Conradus aufgenommen hatten. Sie selbst tat sich ebenso schwer damit, und nun schien sie einen Schritt weiter in Richtung Wahrheit gekommen zu sein, doch was sollte sie mit ihrem Wissen anfangen?
Ragnhild fiel das Denken schwer. Vielleicht wäre ihr eine Idee gekommen, wenn sie nicht so furchtbar aufgeregt gewesen wäre. Noch immer schwer atmend, strich sie sich über den kugelrunden Bauch, wie sie es so häufig in letzter Zeit tat, und grübelte weiter. Etwas Fragwürdiges ging hier vor sich, doch was konnte sie allein als Frau in dieser Situation ausrichten? Unmöglich der Gedanke, dass sie Conrad oder Luburgis selbst auf das Gespräch ansprach oder sich einer der benachbarten Kaufmannsfrauen anvertraute. Es gab nur einen einzigen Weg: Sie musste Albert von den Ereignissen erzählen. Er würde eine Lösung wissen und vielleicht sogar das Geheimnis entschlüsseln. Ihr Entschluss stand fest, damit keinen Moment länger zu warten. In Gedanken war sie bereits auf dem Weg, doch in der Wirklichkeit brauchte sie noch einen Moment, um ihren erschöpften Leib zum Aufbruch zu überreden. Ihr Blick glitt an ihrem Körper herunter. Es war ihr nicht mehr möglich, mit geschlossenen Beinen zu sitzen. Der runde Bauch wölbte sich weit über ihre nun üppigen Brüste. Das waidblaue Kleid, welches ihre Rundungen noch bis vor vier Wochen locker umschmeichelt hatte, war nun bis zum Zerreißen gespannt. Nicht mehr lange, da war sich Ragnhild sicher, dann würde ihr Kind zur Welt kommen.
Ragnhild gab sich einen Ruck, nahm sich die Haube vom Kopf und stand auf. Zunächst mussten die nassen Kleider ausgezogen und gegen trockene gewechselt werden. Da sie in keines ihrer eigenen, vor Monaten für die Schwangerschaft angefertigten Kleider mehr passte, hatte Hilda ihr eines geliehen. Die Magd war um ein Vielfaches runder als die eigentlich schlanke Ragnhild, und somit bot ihr Kleid genug Platz, um den Bauch der Schwangeren zu umhüllen. Ragnhild wollte das Angebot zunächst ablehnen, doch ihre Freundin bestand darauf, dass sie es sich borgte. Die wenigen Tage bis zur Geburt, sagte Hilda, könne sie auf ihr einziges
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