Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
sollte nur werden, wenn Ragnhild erwachte? Würde Luburgis die Kinder wieder herausgeben? Sie vermochte es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken.
Völlig übermüdet schlang sie sich ihren Schal um die Schultern und verließ das Haus. Marga hatte sie eben erst an Ragnhilds Bett abgelöst, und auch Runa war bei ihrer Mutter geblieben. Wie schon die Tage zuvor weigerte sich das kleine Mädchen standhaft, das Bett der Mutter zu verlassen. Sie war sichtlich verzweifelt. Gerade gestern noch hatte sie heftig geweint. Immerzu fragte sie die Magd, warum Ragnhild denn nicht wieder aufwachte. Hilda hatte ihr versucht zu erklären, dass ihre Mutter nun viel schlief, weil sie krank sei und sich erholen müsse, doch sosehr sie auch versuchte, dem Kind schonend, aber ehrlich beizubringen, was derzeit geschah, sie verstand es noch nicht. Sie war einfach noch zu klein.
Hilda war froh, der stickigen Kammer wenigstens für wenige Stunden entkommen zu können. Obwohl es kalt und diesig draußen war, empfand sie das Wetter als wohltuend erfrischend. Weg von Luburgis, weg von der Krankheit, weg von den Sorgen. Wenigsten für einen Moment wollte sie für sich sein.
Gerade in die Pelzerstraße eingebogen, auf dem Weg in die Kirche St. Jacobi, um ein Gebet für Ragnhild zu sprechen, lief ihr Liesel in die Arme.
Liesel, die eigentlich Elisabeth hieß, war die Amme der Zwillinge und somit zurzeit Luburgis’ bedauernswerter Untertan. Sie selbst hatte vier kleine Kinder und einen Säugling. Unter den Frauen der Stadt dafür bekannt, dass sie stets viel Milch hatte, diente sie deshalb schon häufig als Amme bei Müttern, deren Milch zu schnell versiegte.
»Hoppla, Liesel. Was rennst du denn so? Ist es schon wieder so weit, meine Liebe?«, fragte Hilda erstaunt.
»Hast du mich jetzt aber erschreckt.« Die Amme fasste sich vor Schreck an ihren enormen Busen und antwortete kopfnickend: »Ja, wenn ich nicht will, dass Domina Luburgis mir den Kopf abschlägt, muss ich mich beeilen. Ihre Kleinen fressen mir regelrecht die Haare von Kopf«, gestand sie lachend. »Besonders Godeke hat einen gesunden Appetit. Obwohl es der schmächtige Johannes eigentlich besser gebrauchen könnte …« Sie plapperte vor sich hin und bemerkte gar nicht, wie Hilda ins Grübeln kam.
»Liesel«, unterbrach sie die Amme. »Warum sagst du ihre Kleinen zu den Kindern?«
Liesel hielt inne. »Was meinst du? Ich verstehe nicht …«
»Nun ja, es sind die Kinder der Dame Ragnhild und nicht die von Domina Luburgis.«
»Ach so, das meinst du«, sagte sie und winkte lapidar ab. »Ich weiß doch, dass es die Kinder der Dame Ragnhild sind. Doch Domina Luburgis nennt sie selbst immer meine Kleinen . Was soll ich machen? Da schleicht sich das schon mal bei mir ein. Das nimmst du mir doch jetzt nicht übel, oder, Hilda?«
»Nein, nein. Aber merk es dir besser für die Zeit, wenn die Dame Ragnhild wieder gesund ist. Sie ist die Mutter, nicht Domina Luburgis!«
Hildas Antwort fiel weit strenger aus, als sie es wollte, doch sie konnte ihren Zorn nicht verbergen. Ohne weitere Worte ließ sie Liesel stehen und ging ihres Weges.
Die verwunderte Amme blickte ihr nach und verstand die Welt nicht mehr. Hilda jedoch verstand sehr wohl; Luburgis wollte sich die Kleinen aneignen. Sie hatte es bereits geahnt, doch nun wusste sie, dass es stimmte. Ragnhild musste unbedingt aufwachen – am besten noch heute!
Noch am selben Tag fand sich die Amme mit Domina Luburgis in der Kammer der Zwillinge wieder. Sie saß auf einem Schemel und stillte Godeke. Luburgis schritt, eine Melodie summend und den schlafenden Johannes auf dem Arm, durch den Raum.
So friedlich war es seit dem Morgen nicht mehr gewesen, als die Säuglinge erwacht waren, dachte Luburgis lächelnd. Ja, sie lächelte. Es war ein herzliches Lächeln, das den Seltenheitswert früherer Tage verloren hatte. Tatsächlich tat sie es in letzter Zeit häufiger – lächeln.
Noch nie hatte sie solche Freude empfunden wie in den letzten Tagen. Niemals hätte sie gedacht, dass sie zu solcher Liebe überhaupt fähig wäre. Die Trübnis vergangener Zeiten war wie durch ein Wunder verflogen. Was sie sich selbst zunächst mit der selbstverständlichen Sorgepflicht einer Tante ihren Neffen gegenüber zu erklären versucht hatte, war mittlerweile, für jeden sichtbar, mit der echten und reinen Liebe einer Mutter ihren Kindern gegenüber vergleichbar.
Ja, genau so müssen die Empfindungen einer Mutter sein, dachte Luburgis wieder einmal,
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