Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
getaner Arbeit auf die Rückreise gedrängt.
Doch noch etwas trieb ihn nach Hause. Jetzt, da er seinen Auftrag so gut wie erfüllt hatte, wollte er Conrads Versprechen alsbald einfordern, die Bürde des Testaments abschütteln und mit seinem Teil des Erbes ein neues, selbstbestimmtes Leben beginnen. Den ganzen Tag schon stand er an dieser Stelle des Schiffs und dachte nach. Auch wenn er wusste, dass es Unsinn war, hatte er dennoch das Gefühl, er könnte die Fahrt nach Hause mit seinem starr an den Horizont gerichteten Blick beschleunigen. Außerdem gab es hier draußen für ihn die Möglichkeit, den gleichen Himmel anzusehen, den vielleicht auch Ragnhild in diesem Moment betrachtete. Er war sich sicher, dass auch sie schon den ganzen Tag an ihn dachte, denn heute war sein fünfundzwanzigster Geburtstag!
Arnoldus sah den jungen Kaufmann von hinten an und fragte sich nicht zum ersten Mal, was er dort am Bug des Schiffs den lieben langen Tag machte. Immer wenn er ihn da stehen sah, starrte er ganz einfach bloß in die Ferne.
»Herr!«
Albert drehte sich gedankenversunken zu Arnoldus um. Dieser hatte seine Schiffsherrnmütze abgenommen und knetete sie aufgeregt mit den Händen. Er wusste, dass Albert um jeden Preis zurück nach Hamburg wollte, doch er musste ihm jetzt sagen, dass er ihm seinen Wunsch nicht würde erfüllen können.
»Unsere Lage hat sich nicht verbessert. Die Kälte hat uns eingeholt, und, wie Ihr selbst sehen könnt, gibt es bereits das erste dicke Eis. Ich bin kein Mann der vielen Worte, darum muss ich es einfach sagen, wie es ist: Wir werden es nicht bis nach Hamburg schaffen. Auch haben wir nicht mehr die Zeit, um zurück nach Flandern zu kommen. Es ist wahrhaft unerfreulich, aber wenn wir den eingeschlagenen Kurs beibehalten, werden wir womöglich festfrieren und vom Eis zerdrückt.«
Albert nickte kaum erkennbar und atmete hörbar aus. Kleine weiße Dampfwolken stoben aus seinem Mund und blieben als Tropfen in seinem Bart hängen, wo sie unmittelbar zu Eis gefroren.
Die Enttäuschung war ihm deutlich anzusehen, doch wider Erwarten erlebte der Schiffsherr seinen Gast relativ gefasst. Anscheinend hatte er bereits etwas geahnt. »Was bedeutet das genau, Arnoldus?«
»Wir müssen schnell an Land, Herr. Uns bleibt kaum noch Zeit. Heute werden wir nichts mehr ausrichten können. Es dämmert bereits, und bald wird Nebel heraufziehen, aber morgen bei Tagesanbruch werden wir so schnell wie möglich eine geeignete Stelle zum Anlegen suchen.«
Nun war es Albert, der sich mit den Fingern die Augen rieb. Unbewusst hatte er sich diese Geste von Arnoldus abgeschaut. »Wie weit sind wir noch von Hamburg entfernt?«
»Nicht mehr weit. Ich würde sagen, maximal drei bis vier Tagesreisen.« Der Schiffsherr begriff sofort, was sein Fahrgast im Sinn hatte, und sprach schnell weiter. »Auch wenn es nur noch wenige Tage sind, so haben wir doch keine Wahl. Schon jetzt kann ich für nichts mehr garantieren. Eine Weiterreise wäre unverantwortlich. Mein Entschluss steht fest, wir legen morgen bei der ersten Gelegenheit an. Bitte versteht mich, ich bin für die Sicherheit meiner Männer verantwortlich, und deshalb werde ich auch nicht mit mir reden lassen.« Arnoldus war sehr klar in seiner Äußerung, und der Blick, den der Seemann Albert zuwarf, ließ keinen Zweifel daran, dass er sich tatsächlich nicht mehr umstimmen ließ. Besänftigend legte er seine Hand auf Alberts Schulter und sagte: »Es tut mir leid. Sicherlich wird es eine Möglichkeit geben, die Waren von Bord zu bekommen und über Land nach Hamburg zu schaffen.« Nach diesen Worten drehte er sich um und ließ den Kaufmannssohn allein zurück.
Verbitterung keimte in Albert auf. Auch wenn er es insgeheim bereits befürchtet hatte, konnte er es dennoch nicht fassen, dass das Wetter ihm so kurz vor dem Ziel in die Quere kam. Die Erkenntnis, dass sich die Heimreise und somit auch alles, was damit zusammenhing, nun weiter verzögern würde, erzürnte ihn. Einen kurzen Moment lang war er gewillt, Arnoldus zu unterstellen, dass er bloß den dreißigsten Teil des geladenen Warenwertes einzustreichen versuchte, welcher ihm zustand, sobald er einem Kaufmann, der sich in einer Notsituation auf ein Rettungsboot flüchtete, half, seine Waren zu retten. Gleich darauf verwarf er diese törichte Vermutung allerdings wieder. Arnoldus war sein Freund und nicht sein Feind. Voller Wut krallte Albert seine Hände um die Reling.
Warum waren die Geschäfte in Gent nicht
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