Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
Händen an ihr Herz gepresst, fiel Ragnhild vor der Truhe mit Alberts Kleidern auf die Knie und schrie.
Hilda war da und wiegte sie in ihren Armen; hin und her wie ein Kind. Die neugierig herbeigestürmten Frauen schickte sie weg und blieb allein mit Ragnhild zurück. Stundenlang verharrten sie in dieser Stellung,bis Hildas Glieder schmerzten.
Nach diesem Tage hatte Ragnhild keine Tränen mehr übrig. Das Leben ging erbarmungslos weiter; auch ohne Albert. Unaufhaltsam normalisierte sich alles um sie herum. Die Frauen kamen immer seltener in das Haus, ein Tag folgte dem anderen, und die Sonne ging auf und wieder unter.
Luburgis hatte noch immer starke Schmerzen. Doch weit schlimmer als die Schmerzen war die Angst, die sie jede Nacht befiel, sobald sie neben ihrem Mann im Ehebett lag. Keine ihrer Befürchtungen wurden jedoch bestätigt. Conrad rührte sie nicht mehr an.
Seit dem Zusammentreffen im Kontor waren schon fünf Tage vergangen, und die Eheleute hatten kaum mehr miteinander gesprochen. Lediglich ein einziges Gespräch hatte es seither gegeben – und dieses Gespräch hatte ihre Ehe vollständig verändert.
Conrads zunächst erschrockene Miene ließ sie fälschlicherweise glauben, dass er seine Tat bereute. Anstatt sich aber zu entschuldigen, erklärte er ihr voller Verachtung, dass er sie verabscheue, weil sie ihrer Pflicht als Frau nicht nachkam. Er sagte, dass er es bereue, sich damals nicht eine andere zur Frau genommen zu haben. Ein fruchtbares Weib, welches ihm mehr zugetan war. Dann fing er an, die Namen einiger Ratsherrenfrauen aufzusagen, die er statt ihrer ebenso hätte heiraten können. Er wollte sie demütigen, sie verletzen. Mit innigstem Groll zählte er ihr die unmöglichsten Anzüglichkeiten auf, die er mit ihnen im Bett gerne machen würde.
Luburgis fühlte dabei einen Schmerz in ihrem Herzen, der den in ihrem Gesicht fast übertraf. In einem Akt der Verzweiflung hatte sie unter Tränen angefangen, ihn an die Gebote des Herrn zu erinnern, in denen es heißt: Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib . Doch Conrads Wut wuchs weiter, und er brüllte sie an, ihn besser nicht noch einmal zu unterbrechen. Mit bedrohlich großen Schritten war er auf sie zugelaufen, bis sie angstvoll verstummt war.
Conrad hatte, wütend über ihr freches Verhalten, wie von selbst die Hand gehoben, nur um sie gleich darauf wieder sinken zu lassen. Sein Hass war angesichts ihrer von Nahem noch deutlicher zu sehenden Verletzungen in Sekundenschnelle gewichen. »Bedecke dein Haupt mit einem Trauerschleier«, waren seine einzigen Worte. Danach verschwand er aus dem Kontor – seither herrschte Stille zwischen ihnen.
Luburgis blieb mit leerem Herzen zurück. Sie wusste, wie sie seine Anweisung zu deuten hatte. Niemand sollte von dem Zwischenfall erfahren, und darum durfte auch niemand ihr Gesicht so sehen. Nun liefen ihr täglich die Tränen. Sie traute sich nicht, ihr Gesicht zu berühren, um sie fortzuwischen, doch da es von dem Schleier bedeckt wurde, war das auch gar nicht nötig. So ließ sie sie einfach laufen.
Die Zeit in der Reichenstraße verging. Noch immer war Luburgis gelähmt von den Ereignissen und gekränkt von den unbegreiflichen Worten Conrads. Sie bewegte sich in ihrem eigenen Haus nur noch zaghaft und scheu und war immer froh, wenn sich ein Tag dem Ende neigte. Auch dieser Tag war fast vorüber, und so schlich sie allmählich in ihre Schlafkammer. Hier konnte sie endlich für sich sein und den zwar schützenden, aber lästigen Schleier abnehmen. Ihr Mann würde wie immer erst spät ins Bett kommen oder gar in seinem Sessel im Kontor einschlafen; Luburgis war nicht traurig darum.
Fügsam hatte sie dem Wunsch ihres Ehemanns entsprochen und ihr Gesicht seit dem Vorfall bedeckt gehalten. Die Schwellungen um die Augen waren etwas zurückgegangen, sodass sie nun wieder besser sehen konnte, doch sie fragte sich ernsthaft, ob die Wunden je wieder vollkommen heilen würden. Ihre Nase fühlte sich noch immer krumm und sehr geschwollen an, und die geplatzte Lippe behinderte sie nach wie vor beim Essen. Obwohl sie nie besonders eitel gewesen war – denn Eitelkeit war eine Sünde –, empfand sie nach Conrads Angriff Scham über ihr Aussehen.
Irgendwann würde sie den Trauerschleier ablegen müssen, und schon heute graute es ihr vor diesem Tage. Bereits jetzt spürte sie die fragenden Blicke der anderen auf sich ruhen, fast so, als ahnten sie bereits etwas. Das Ableben Alberts rechtfertigte
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