Die Frau des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
geschafft, auch nur einen Fuß vor den anderen zu setzen? Jede noch so kleine Bewegung schien ihr eine unüberwindbare Hürde zu sein, und auch des Nachts fand sie keine Erholung. Die Nächte waren sogar noch weit schlimmer als die Tage. Immer wieder war sie im Traum an dem Strand, wo die Leichen gefunden wurden, nachdem die wilde Nordsee sie freigegeben hatte. Sie war stets allein mit dem toten Albert. Er lag einfach da, blass und kalt, doch das störte sie nicht. Ihre Hände umschlossen sein Gesicht, und ihr Mund bedeckte seine Lider, seine Lippen, seine Wangen mit Küssen. Ständig war sie an diesem Strand. Im Traum, wenn sie schlief, und in Gedanken, wenn sie wachte. Auf diese Weise holte sie nach, was sie nicht hatte tun können; ihm richtig Lebewohl sagen!
Weil es keine Leiche zu bestatten gab, gab es auch kein Grab, an dem sie trauern konnte. Nur zu gern hätte Ragnhild die Totenwache für ihren Mann gehalten, doch wo hätte sie das tun sollen? Lediglich die vielen Seelenmessen, die gestifteten Kerzen und das längst vergangene Totenmahl in der Reichenstraße zeugten blass von Alberts Dahinscheiden.
Normalerweise hätte sie im Mariendom trauern können, denn obwohl er noch nicht vollkommen fertiggestellt war, befand sich hier das Familiengrab der von Holdenstedes. Nur die wohlhabenden Kaufleute und Bürger konnten es sich leisten, an dieser Stelle ihre Angehörigen zu bestatten. Mechthild und Conradus von Holdenstede lagen dort begraben, und auch Albert hätte ursprünglich hier seinen Platz gehabt. Eigentlich war es ein tröstlicher Ort, mit den Heiligenaltären an den Wänden und den vielen Grabplatten im Inneren. Ragnhild jedoch konnte den Dom einfach nicht betreten. Es erschien ihr fast, als ob die Mauern sie verhöhnten, denn sie wusste: Er war nicht hier. Alberts Körper fehlte; und das machte den Dom für sie zu seinem großen steinernen Sarg ohne Leiche.
Keiner wusste, ob Albert vor seinem Tod die Beichte hatte ablegen können, und es war ebenso unklar, ob er die Letzte Ölung empfangen hatte. Doch die Wahrscheinlichkeit war sehr gering und somit die Überführung seiner Seele ins ewige Himmelreich unmöglich.
Obwohl Ragnhild nach der Nachricht vom Untergang der Resens gedacht hatte, der Schmerz über ihren Verlust könnte größer nicht werden, wusste sie es heute besser. Es war nur der Anfang gewesen, und die Trauer kam langsam. Sie schlich sich an, kriechend wie ein Tier, das seine Beute zunächst beobachtet und dann blitzschnell zuschlägt. Jetzt hatte das Raubtier sie in seiner Gewalt, und sie war bewegungsunfähig. Ihr wurde nun bewusst, was sie eigentlich schon Tage zuvor gewusst hatte: Albert war tot!
Viele Frauen waren gekommen und standen ihr bei. Jede von ihnen wollte der trauernden Witwe helfen; sei es aus inniger Freundschaft oder aus nicht mehr oder weniger als der christlichen Nächstenliebe. Ragnhilds Herkunft war zum ersten Mal in ihrem Leben nicht von Bedeutung. Damen, die ihr sonst nicht viel Beachtung schenkten, tupften ihr nun liebevoll die Stirn, wenn sie schlief, kochten ihr eine stärkende Brühe oder versorgten ihre Kinder. Ragnhild konnte jedoch keine Dankbarkeit zeigen. Sie funktionierte nur noch und nahm bloß noch schemenhaft wahr, was um sie passierte. Während sie tat, was getan werden musste, litt sie still. Mit niemandem wollte sie ihre Trauer teilen; auch nicht mit Hilda. Tagsüber redete sie kaum noch ein Wort, und des Nachts weinte sie sich einsam in den Schlaf. Vielleicht hätte sie mit Hilda geredet, wenn sie nur die richtigen Worte gewusst hätte. Doch alle Worte schienen ihr leer und bedeutungslos. Keines konnte beschreiben, wie sie sich wirklich fühlte. Darum schwieg sie.
Die Magd machte sich große Sorgen. Zusammen mit Agatha, der Frau des Gewandschneiders Voltseco, Hildegard von Horborg, der Amme Liesel, Luburgis und einer Schwägerin von ihr namens Heseke versorgte Hilda abwechselnd die Kinder und den Haushalt. Trotz der vielen Arbeit ließ sie die wortlose Ragnhild nie aus dem Auge. Unauffällig folgte sie ihr. Allzeit bereit, ihr jeden Wunsch von den stillen Lippen abzulesen. Doch Ragnhild begehrte nichts; und sie sagte auch nichts.
Nach außen hin sah es wohl so aus, als hätte sie sich langsam mit dem Tod ihres Mannes abgefunden, doch Hilda, die ebenfalls vor Jahren ihren geliebten Ehemann verloren hatte, wusste es besser.
Völlig unangekündigt kam der Tag, an dem sich all ihr Schmerz in einem einzigen langen Schrei entlud. Seinen Bliaut mit den
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