Die Frau des Seiltaenzers
zu fristen, mutlos und bangend, man könnte sie verraten.
»Hallo, Ihr da! Wohl neu in diesen Mauern?«
Von jenseits des Baches vernahm sie eine kräftige Stimme, und Magdalena trat einen Schritt zurück, um sich vor dem Rufer zu verstecken; doch konnte sie gerade noch sehen, wie der einen Satz über den Bach tat, sein Ziel, das andere Ufer, jedoch verfehlte und im knietiefen Gewässer landete.
Beim Anblick des Mannes, der hochbeinig wie ein Storch durch das Wasser stakte und mit einer hilflosen Geste nach oben blickte, musste Magdalena lachen, und sie rief dem Unglückswurm zu: »Hallo, Ihr da! Wohl nicht der beste Springer in diesen Mauern?«
»Beileibe nicht, nein!«, erwiderte der Kerl. »Und damit Ihr gleich noch mal etwas zu lachen habt: Ich heiße Wendelin Schweinehirt.«
»Magdalena«, antwortete Magdalena und lehnte sich aus dem Fenster.
»Ihr lacht ja gar nicht?«, bemerkte Wendelin.
»Wegen Eures Namens? Warum sollte ich? Seinen Namen kann man sich nun einmal nicht aussuchen. Es ist töricht, jemanden wegen seines Namens zu verspotten.«
Da machte der durchnässte Mann eine tiefe Verbeugung und blickte dankend nach oben: »Was führt Euch zu den Zisterziensern von Eberbach? Wollt Ihr länger bleiben?«
»Das sind zwei Fragen auf einmal«, antwortete Magdalena vorwurfsvoll. »Was würdet Ihr antworten, wenn ich Euch dieselbe Frage stellte?«
Schweinehirt verzog anerkennend das Gesicht, indem er den Mund spitzte und die Augenbrauen hob. »Ihr seid bei Gott nicht auf den Mund gefallen, Jungfer. Ich jedenfalls würde Eure Fragen ohne zu zögern beantworten – vorausgesetzt, Ihr kämt herunter.«
»Das würde ich gerne tun. Doch ich fürchte, ich würde mich verlaufen in dem weiträumigen Gemäuer mit seinen endlosenKorridoren und den Treppen, die sich um die eigene Achse drehen wie das Gehäuse einer Schnecke.«
»Ach was! Verlasst Eure Kammer und geht linker Hand neunzig Schritte. Dann führt rechter Hand ein spitzbogiger Durchgang zu einer rechtsdrehenden Treppe, an deren Ende ein Durchgang geradewegs ins Freie führt. Dort erwarte ich Euch.« Sprachs und verschwand aus ihrem Blickfeld.
Auf dem Weg, den ihr Schweinehirt exakt beschrieben hatte, gelangte Magdalena ins Freie. Wendelin wartete in trockener Kleidung auf sie – in bunter Kleidung, nicht gerade so, wie man es in einem Kloster erwarten würde.
»Ich gehe wohl recht in der Annahme, dass Ihr nicht geistlichen Standes seid«, bemerkte Magdalena schmunzelnd.
»Wie Ihr seht«, erwiderte Wendelin, »trage ich keine Kutte, und was mein Denken anbelangt, so ist mir jede Art von Frömmigkeit schon in jungen Jahren abhandengekommen.«
»Ungewöhnlich, dass ein solcher Freigeist sich ausgerechnet bei den Zisterziensern aufhält.«
»Das lässt sich nicht leugnen, Jungfer; doch müsst Ihr wissen, dass die hundertfünfzig Mönche in diesem Kloster nur etwa ein Drittel der gesamten Bewohnerschaft ausmachen. Zwei Drittel verdingen sich als Gesinde, als Pferdeknechte und Mägde, Handwerker und Dienstboten, Winzer und Bauern, Krankenpfleger und Quacksalber und was sonst noch an einem Ort dieser Größe gebraucht wird.«
»Und Ihr?«, warf Magdalena ein, während sie den Bach entlangschlenderten. »Lasst mich raten: Ihr seid ein Schneider, der den Mönchen stramme Kutten schneidert!«
»Falsch geraten, Jungfer!«
»Was dann? Ihr macht mich neugierig.«
»Erlernt habe ich den Beruf des Briefmalers«, begann Schweinehirt weit ausholend. »Ich malte Urkunden und schrieb Briefe in kunstvoller Handschrift, ohne dass auch nur ein Tintenklecks dasPergament verunstaltete. Grafen und Herzöge, sogar Seine kurfürstliche Gnaden Albrecht von Brandenburg, zählten zu meinen Auftraggebern, und ich hatte ein gutes Auskommen. Doch dann setzte sich mehr und mehr diese gottverdammte Erfindung jenes Johannes Gensfleisch durch, dem sein Name missfiel und der sich schließlich Gutenberg nannte, und plötzlich mussten jede Urkunde, jeder Brief, sogar die Ablasszettel mit Fett und Ruß gedruckt sein – pfui Deibel. Also ging ich, auf der Suche nach einem neuen Gewerbe, auf Wanderschaft. Ich kam nicht weit. Hier in Eberbach, gerade mal einen Tagesmarsch von meiner Heimatstadt Mainz entfernt, machte mir Abt Nikolaus das Angebot, die Klosterbibliothek zu archivieren, alle Bücher in einem Folianten zu erfassen, nach dem lateinischen Alphabet geordnet. Der Abt versprach mir zwölf Kreuzer die Woche, aber bis heute habe ich nicht eine Münze gesehen – ich arbeite,
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