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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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Beelzebub, deren VerhaltenAnlass gibt zu der Vermutung, sich dem Teufel verschrieben und sich der schwarzen Magie bedient zu haben, indem sie auf dünnem Seil Türme bestieg, obwohl sie in dieser Kunst von niemandem unterrichtet wurde, soll sich, in Anwesenheit der Heiligen Inquisition sowie weiterer Zeugen, einem Gottesurteil unterziehen, nachdem evidentia facti , ein Geständnis oder mehrere beweisträchtige Zeugenaussagen nicht vorhanden sind. Sit nomen Domini benedictum .«
    Magdalena scheiterte bei dem Versuch, sich von dem niedrigen Hocker zu erheben, zu schwer hingen die Eisenketten an ihren Handgelenken. Also schleuderte sie dem Inquisitor sitzend ins Gesicht: »Hochwürdigster Herr Inquisitor, Ihr solltet besser wissen als ich, dass jede Art von Gottesurteil seit dem Laterankonzil verboten ist, und das ist gut dreihundert Jahre her!«
    »Eben«, erwiderte Frater Dominicus, »das ist lange her, und die Zeiten haben sich geändert. In Hexenprozessen der Heiligen Inquisition ist das Gottesurteil längst wieder gang und gäbe. Nur weltliche Gerichte unterliegen noch dem Verbot.« Und hämisch grinsend fügte er hinzu: »Oder siehst du hier einen weltlichen Rechtsverdreher mit Barett und Talar?«
    Ein sogenanntes Gottesurteil, das wusste Magdalena nur zu gut, entschied keineswegs durch ein göttliches Zeichen über Leben und Tod, sondern durch puren Zufall. Etwa der Probebissen, bei dem der Delinquent einen vergifteten Brocken Brot schlucken musste. Würgte er ihn wieder hoch, galt er als unschuldig. Oder die Wasserprobe, bei der ein Beschuldigter gefesselt ins Wasser geworfen wurde. Schwamm er an der Wasseroberfläche, ohne unterzugehen, galt er als schuldig, denn – so das gottgewollte Urteil – das reine Wasser wolle ihn nicht aufnehmen. Oder der Kesselfang, bei dem der Angeklagte mit bloßen Händen einen Gegenstand aus siedendem Wasser holen musste. Überstand der Delinquent die Prozedur unverletzt, wurde er freigesprochen. Dabei blieb es allerdings dem Gericht überlassen, wie tief der Kessel und wie klein derGegenstand war. Gott blieben, bei seinem vermeintlichen Urteil, noch andere grausame Möglichkeiten.
    Angst schnürte Magdalenas Kehle zu. Sie bekam kaum noch Luft. Die Ketten an ihren Handgelenken schmerzten. Wie aus weiter Ferne vernahm sie die Fistelstimme des Inquisitors, der die Schergen beauftragte, das Seil, über dessen Verwendung Magdalena schon während des Verhörs gerätselt hatte, vom Treppenturm der Bibliothek zum Turm über dem Geviert der Klosterkirche zu spannen. Nur bruchstückhaft drangen die Worte des Dominikaners auf sie ein: Magdalena Beelzebub – über das Seil – von einem Turm zum anderen – so es Gottes Wille …
    Während die Schergen verschwanden, um ihrem Auftrag nachzukommen, trat ein Bote in den Raum, näherte sich dem Inquisitor und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Frater Dominicus erhob sich und folgte ihm nach draußen, ohne eine Erklärung abzugeben.
    Tränen rannen über Magdalenas Wangen, Tränen der Hilflosigkeit. Es gab keinen Ausweg. Selbst ein Geständnis, die wahren Hintergründe, die sie zu dem viel bewunderten Kunststück befähigt hatten, hätten sie nicht vor dem Urteil des Inquisitors bewahrt. Du hast, ging es Magdalena durch den Kopf, deinem Schicksal zu viel des Glücks abgetrotzt.
    Nach wenigen Augenblicken kehrte der Inquisitor zurück.
    Umständlich und ohne erkennbaren Grund, als versuchte er Zeit zu gewinnen, rückte er die Folterwerkzeuge vor sich auf dem Tisch zurecht. Dann blickte er auf, und ohne Magdalena anzusehen, verkündete er mit verbissener Miene: »Entgegen aller Zweifel wird die der Hexerei beschuldigte Jungfer Magdalena Beelzebub von dem genannten Vorwurf freigesprochen. Sit nomen Domini benedictum !«
    Die letzten Worte sprach der Dominikaner so schnell, dass Magdalena ihnen kaum zu folgen vermochte, und ebenso schnell trat ein Scherge nach einem Wink des Inquisitors auf sie zu und löste ihre Fesseln. Die anderen sammelten hastig die Folterwerkzeuge ein, und ehe sie sich’s versah, waren alle – die Dominikaner, die Domherrenund Schergen – verschwunden. Magdalena wusste nicht, was sie davon halten sollte.
    Es dauerte bange Minuten, Minuten unheimlicher Stille, bis Magdalena endlich begriff, was sich ereignet hatte. Zwar machte das alles keinen Sinn, sie wusste nur eines: Die Inquisition hatte sie freigesprochen. Sie war frei! Welche Umstände den plötzlichen Meinungsumschwung des Inquisitors auch bewirkt haben mochten, sie

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