Die Frau des Seiltaenzers
ein Feuer, und Benjamino bereitete eine dickliche Abendsuppe aus dem, was er im Städtchen eingekauft hatte. Gaukler und Fuhrleute löffelten schweigsam die Suppe, und Rudolfo und Magdalena zogen sich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, in den Wagen des Seiltänzers zurück.
Magdalena konnte nicht umhin, ihre neuen Kleider zu probieren. Der Kleiderhändler hatte recht, die Gewänder passten, als wären sie für sie gemacht worden.
Rudolfo verschlang Magdalena mit großen Augen.
»Die Gelegenheit war wohl nicht gerade günstig«, bemerkte diese im blauen Kleid mit dem Taftoberteil, das ihre Brüste besonders betonte. »Vielleicht hätte ich besser gewartet, bis wir über neue Einnahmen verfügen.«
Rudolfo hob beide Hände: »Du brauchst dich bei Gott nicht zu rechtfertigen. Du trägst seit Wochen nur ein einziges Kleid. Selbst die Fuhrknechte sind nicht auf ein einziges Gewand angewiesen. Auch ist es dein Geld und nicht das der Gauklertruppe. Im Übrigen muss ich dir sagen, du siehst unwiderstehlich aus.«
Die schönen Worte des Seiltänzers ließen Magdalena erröten. Nie in ihrem Leben hatte sie solche Schmeicheleien empfangen. Sie taten ihr gut, so gut, dass sie nicht genug davon bekommen konnte und seine Blicke herausfordernd erwiderte. »Darf ich dir eine Frage stellen?«, erkundigte sie sich vorsichtig.
»Aber natürlich«, antwortete Rudolfo lachend.
Magdalena war nicht verborgen geblieben, dass Rudolfo, den sie als einen ernsten Menschen kennengelernt hatte, in jüngster Zeit zunehmend fröhlicher wurde, lachte, bisweilen sogar scherzte. »Was meintest du dieser Tage, als du sagtest, du liebtest mich? Warum lässt du es mich nicht spüren? Du verhältst dich wie ein Minnesänger, der nur von Liebe redet, es aber nie zeigt.«
Da wurde Rudolfo ernst, als habe Magdalena trübe Gedanken in ihm entfacht. Er atmete schwer. Schließlich erwiderte er: »Zwar verbietet der Codex der Neun Unsichtbaren nicht ausdrücklich, sich dem anderen Geschlecht zuzuwenden, aber …«
Magdalena stutzte. Von einem Augenblick auf den anderen brach eine Welt für sie zusammen, und sie stammelte: »Dann darfst du also nur Männer lieben? Sag, dass es nicht wahr ist!«
Erst jetzt konnte der Seiltänzer Magdalena folgen. »Um Himmels willen«, entgegnete er, »die gleichgeschlechtliche Liebe ist für die Neun Unsichtbaren das größte Tabu! Denn sie macht sie erpressbar. Und das ist auch der Grund, warum der Codex im Umgang mit Frauen Zurückhaltung fordert. Frauen gelten nun einmal als geschwätzig. Sie könnten verraten, was ihnen in einer schwachen Stunde des Mannes zu Ohren kam.«
»Ach so ist das!« Magdalenas Augen funkelten zornig. »Ich dachte, die Neun Unsichtbaren wären kluge Männer. Dabei machen sie sichdie Lehre der heiligen Mutter Kirche zu eigen, welche die von Gott geschaffene Frau als Ausgeburt der Hölle und Ursache allen Übels betrachtet – ausgenommen die Mutter des Erlösers. Ich kenne die Schriften der Kirchenväter zur Genüge. Dort kannst du nachlesen, dass das Weib, anders als der Mann, keineswegs Ebenbild Gottes sei und dass das Weib es war, das die Erbsünde zu verantworten hat und damit allen Schmerz, dem die Menschen ausgesetzt sind!«
Nur mit Mühe gelang es Rudolfo, Magdalena zu bremsen. »Du vergisst, dass die Neun Unsichtbaren nichts mit Kirche und Papsttum zu tun haben. Im Gegenteil. In einem der neun Bücher ist aufgelistet, wie es zur Frauenfeindlichkeit der Kirche kam und welche Männer – es waren ausschließlich Männer – dafür verantwortlich sind. Auch dieses Buch gehört zu den Schätzen der Weisheit. Und du kannst dir vielleicht vorstellen, dass die Veröffentlichung allein dieses Buches ausreichen würde, um an den Fundamenten der Kirche zu rütteln.«
»Du hast das Buch gelesen?«
»Nicht nur dieses.«
»Und du weißt, wo die neun Bücher versteckt sind?«
»Selbstverständlich. Es ist meine Aufgabe als Bewahrer der geheimen Bücher, den Ort geheim zu halten, bis mein seliges Ende naht. Nicht einmal die übrigen acht kennen die Stätte.«
»Und wie kamst ausgerechnet du, ein Seiltänzer, zu dieser Auszeichnung?«
»Das ist eine lange und schier unglaubliche Geschichte.« Rudolfo sah Magdalena schweigend an. Nach einer längeren Pause sagte er: »Magdalena, dir ist doch klar, dass ich dir bereits viel mehr erzählt habe, als mir der Codex der Neun Unsichtbaren gestattet. Versprich mir zu schweigen.«
Magdalena nickte. »Sorge dich nicht. Kein Wort soll je über meine
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