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Die Frau des Zeitreisenden

Die Frau des Zeitreisenden

Titel: Die Frau des Zeitreisenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Audrey Niffenegger
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ob Alicia vielleicht doch ein neues aufnehmen sollte. Ich frage Sharon, ob sie zum ersten Mal hier oben ist, und sie nickt. Eben will ich zu einer zweiten Frage ansetzen, da will Philip wissen, was meine Mutter macht; ich werfe Clare einen Blick zu, der besagt Hast du ihnen denn gar nichts erzählt ?
    »Meine Mutter war Sängerin. Sie ist tot.«
    Clare sagt ruhig: »Henrys Mutter war Annette Lyn Robinson.« Ebenso gut hätte sie ihnen erzählen können, dass meine Mutter die Jungfrau Maria war; Philips Miene hellt sich auf. Lucille macht eine kleine Flatterbewegung mit den Händen.
    »Unglaublich - fantastisch! Wir haben alle Platten von ihr...« und so weiter. Doch dann sagt Lucille: »Als kleines Mädchen bin ich ihr mal begegnet. Mein Vater nahm mich mit zu Madame Butterfly, und er kannte jemanden, der uns nach der Vorstellung hinter die Bühne mitnahm. Wir gingen in ihre Garderobe, und da war sie, umgeben von Blumen, und sie hatte ihren kleinen Sohn dabei -aber das müssen Sie ja gewesen sein!«
    Ich nicke und versuche, meine Stimme wiederzufinden. Clare sagt: »Wie sah sie aus?« Mark fragt: »Gehen wir heute Nachmittag Ski fahren?« Philip nickt. Lucille lächelt, ganz in Erinnerung versunken. »Sie war so schön - hatte noch die Perücke auf, diese langen schwarzen Haare, und damit neckte sie den kleinen Jungen, kitzelte ihn, er tanzte um sie herum. Ihre Hände waren sehr hübsch, sie hatte etwa meine Größe, gertenschlank, eigentlich war sie Jüdin, wisst ihr, aber ich fand, sie wirkte eher ein bisschen italienisch...« Lucille bricht ab, ihre Hand fliegt zum Mund, und ihr Blick schweift auf meinen Teller, der bis auf ein paar Erbsen leer ist.
    »Sind Sie Jude?«, fragt Mark freundlich.
    »Könnte ich wohl sein, wenn ich wollte, aber bei uns hat niemand Wert darauf gelegt. Sie starb, als ich sechs war, und mein Dad ist ein abtrünniger Episkopale.«
    »Sie sehen ihr unglaublich ähnlich«, meldet sich Lucille, und ich danke ihr. Etta, die unsere Teller abräumt, fragt Sharon und mich, ob wir Kaffee möchten. Beide sagen wir gleichzeitig Ja, und das so begeistert, dass Clares ganze Familie lacht. Etta lächelt uns mütterlich an, und wenig später stellt sie dampfende Kaffeetassen vor uns hin, und ich sage mir So schlimm war das doch gar nicht. Alle reden über Skifahren und das Wetter, dann stehen wir gemeinsam auf, und Philip geht mit Mark in die Eingangshalle. Ich frage Clare, ob sie mit den anderen Ski fährt, aber sie zuckt mit den Achseln und will wissen, ob ich Lust habe, worauf ich erkläre, dass ich weder Ski fahre noch interessiert bin, es zu lernen. Sie entschließt sich dennoch, mit den anderen zu gehen, weil Lucille sagt, sie brauche jemanden, der ihr bei den Bindungen hilft. Als wir die Treppe hinaufgehen, höre ich wie Mark sagt»... eine unglaubliche Ähnlichkeit...« und muss insgeheim schmunzeln.
    Später, als alle weg sind und im Haus Ruhe herrscht, wage ich mich aus meinem kalten Zimmer nach unten, auf der Suche nach Wärme und noch mehr Kaffee. Ich gehe durchs Esszimmer in die Küche, einem Raum mit einem erstaunlichen Aufgebot an Glassachen, Besteck, Kuchen, geputztem Gemüse und Bratpfannen, wie man es sich in einem Vier-Sterne-Restaurant vorstellt. Inmitten alldem steht Nell mit dem Rücken zu mir, singt Rudolph the Red Nosed Reindeer und wackelt mit ihren ausladenden Hüften, während sie einem kleinen schwarzen Mädchen, das stumm auf mich zeigt, mit einer Bratensaftspritze winkt. Nell dreht sich um, schenkt mir ein breites, Zahnlücken entblößendes Lächeln, und sagt: »Was tun Sie denn in meiner Küche, Mister Freund der Miss?«
    »Ich dachte, Sie haben vielleicht noch etwas Kaffee übrig.«
    »Übrig? Ja, glauben Sie denn, ich lass den Kaffee den ganzen Tag rumstehen und schau zu, wie er bitter wird? Huschhusch, raus mit Ihnen, junger Mann, Sie setzen sich jetzt mal schön ins Wohnzimmer und ziehen an der Klingel, und dann bring ich Ihnen einen frischen Kaffee. Haben Sie bei Ihrer Mutter vielleicht nicht gelernt, was ein anständiger Kaffee ist?«
    »Tja, meine Mutter war tatsächlich keine begnadete Köchin«, erwidere ich und wage mich näher an das Zentrum des Sogs. Etwas duftet hier unwiderstehlich. »Was machen Sie da?«
    »Das ist ein Thompson-Truthahn, was da so duftet«, sagt Nell. Sie öffnet den Herd und zeigt mir einen riesenhaften Truthahn, der aussieht wie ein Überbleibsel aus dem Großen Feuer von Chicago: vollkommen schwarz. »Sie brauchen gar nicht so skeptisch

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