Die Frau des Zeitreisenden
aber holen mich meine eigenen Sorgen wieder gewaltsam ein. Ich werde bald wiederkommen, ich kann mich nicht mein ganzes Leben lang mit Clare im Bett verstecken. Kimy beobachtet, wie ich Dads Tür öffne.
»Hey, Dad? Bist du da?«
Eine Pause, und dann: »VERSCHWINDE.«
Ich gehe die Treppe hinauf, und Mrs Kim schließt die Tür.
Als Erstes schlägt mir der Geruch entgegen: Da ist irgendwas am Verrotten. Das Wohnzimmer ist verwüstet. Wo sind die vielen Bücher geblieben? Meine Eltern besaßen tonnenweise Bücher, über Musik, über Geschichte, Romane, auf Französisch, auf Deutsch, auf Italienisch: Wo sind sie? Auch die Platten- und CD-Sammlung erscheint mir kleiner. Überall auf dem Boden liegen Papiere, Werbung, Zeitungen, Notenblätter. Das Klavier meiner Mutter ist mit Staub überzogen, und auf dem Fenstersims steht eine Vase mit längst vertrockneten Gladiolen. Ich gehe durch den Flur, sehe kurz in die Schlafzimmer. Totales Chaos: Kleider, Müll, noch mehr Zeitungen. Im Bad liegt eine Flasche Michelob unterm Waschbecken, und davor glänzt eine vertrocknete Bierlache auf den Kacheln.
In der Küche sitzt mein Vater mit dem Rücken zu mir am Tisch und blickt aus dem Fenster zum Fluss hinaus. Er dreht sich nicht um, als ich eintrete, sieht mich nicht an, als ich mich setze. Aber er steht auch nicht auf und geht, also vielleicht ein Zeichen, dass ein Gespräch in Gang kommt.
»Hallo, Dad.«
Schweigen.
»Eben war ich bei Mrs Kim. Sie sagt, dir geht es nicht besonders gut.«
Schweigen.
»Wie ich höre, arbeitest du nicht.«
»Es ist Mai.«
»Und wieso bist du nicht auf Tournee?«
Schließlich sieht er mich an. Unter seiner sturen Miene verbirgt sich Angst. »Ich bin krankgeschrieben.«
»Seit wann?«
»März.«
»Wird dein Gehalt weiter gezahlt?«
Schweigen.
»Bist du krank? Was fehlt dir?«
Ich glaube schon, er ignoriert meine Frage, da antwortet er, indem er seine Hände ausstreckt. Sie zittern, als fände ein eigenes kleines Erdbeben in ihnen statt. Endlich hat er es geschafft. Dreiundzwanzig Jahre entschlossenen Trinkens, und er hat seine Fähigkeit Geige zu spielen ruiniert.
»Oh, Dad. Mein Gott. Was sagt Stan dazu?«
»Er sagt weiter nichts. Die Nerven sind kaputt, und das wird auch nicht wieder.«
»Lieber Himmel.« Eine unerträgliche Minute lang sehen wir uns an. Seine Miene ist verzweifelt, und allmählich dämmert mir: Er hat nichts mehr. Ihm bleibt nichts, was ihn stützt, was ihm Halt gibt, was seinem Leben einen Sinn verleiht. Erst Mom, dann seine Musik - weg, alles weg. Ich war ihm ohnehin nie wichtig, meine verspäteten Bemühungen werden also unerheblich sein. »Und was geschieht jetzt?«
Schweigen. Nichts geschieht jetzt.
»Du kannst nicht hier oben bleiben und die nächsten zwanzig Jahre trinken.«
Er starrt auf den Tisch.
»Was ist mit deiner Rente? Arbeitslosengeld? Krankenversicherung? Anonyme Alkoholiker?«
Er hat sich um nichts gekümmert, hat alles schleifen lassen. Wo bin ich nur gewesen?
»Ich hab deine Miete bezahlt.«
»Ach.« Er ist verwirrt. »Hatte ich sie denn nicht bezahlt?«
»Nein. Du warst ihr zwei Monate schuldig. Mrs Kim war das sehr peinlich. Sie wollte es mir nicht sagen und wollte mein Geld nicht annehmen, aber es ist sinnlos, deine Probleme zu ihren zu machen.«
»Arme Mrs Kim.« Tränen laufen meinem Vater die Wangen hinab. Er ist alt. Anders kann man es nicht ausdrücken. Mit siebenundfünfzig ist er ein alter Mann. Mittlerweile bin ich nicht mehr wütend. Mir tut er Leid und ich habe Angst um ihn.
»Dad.« Er sieht mich wieder an. »Hör mal. Du musst mich ein paar Dinge für dich regeln lassen, ja?« Er blickt beiseite, schaut wieder zum Fenster hinaus auf die unendlich viel interessanteren Bäume am gegenüberliegenden Ufer. »Du musst mir deine Rentenunterlagen und Kontoauszüge und das alles zeigen. Du musst Mrs Kim und mich die Wohnung sauber machen lassen. Und du musst aufhören zu trinken.«
»Nein.«
»Was nein? Alles oder nur etwas Bestimmtes?«
Schweigen. Allmählich verliere ich die Geduld, also wechsle ich das Thema. »Dad, ich will heiraten.«
Damit habe ich seine Aufmerksamkeit.
»Und wen? Wer sollte dich schon heiraten?« Er sagt das, glaube ich, ohne Boshaftigkeit. Er ist wirklich neugierig. Ich ziehe meine Brieftasche hervor und hole das Foto von Clare aus der Plastikhülle.
Auf dem Bild blickt sie gelassen über den Lighthouse Beach. Ihre Haare wehen wie ein Banner im Wind, im frühen Morgenlicht scheint sie vor dem
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